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Politik: Vorbild Europa

Ankaras Premier Gül verspricht eine neue Verfassung, die sich an den Normen der EU orientiert

Die neue türkische Regierung unter Ministerpräsident Abdullah Gül will die Türkei völlig umkrempeln und aus dem bisher noch sehr obrigkeitshörigen Zentralstaat eine moderne Demokratie machen. In seiner ersten Regierungserklärung kündigte Gül im Parlament von Ankara eine neue Verfassung, ein neues Strafgesetzbuch und eine Justizreform an, die sich an den Normen der Europäischen Union orientieren sollen. Schon in der kommenden Woche sollen die ersten Gesetzentwürfe fertig sein. Unter anderem ist geplant, dass Folterdelikte nicht mehr verjähren dürfen. Zudem sollen die Ex-Abgeordnete Leyla Zana und andere inhaftierte kurdische Politiker ein neues Verfahren erhalten.

Gül will sein Land möglichst schnell auf EU-Standard bringen. Das kurzfristige Ziel lautet, die Europäer zur Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der Türkei zu überreden. Der neue türkische Regierungschef hatte angekündigt, seine Regierung werde die Europäer mit ihrem Reformwillen „schocken". Wenn der Premier hält, was er in seinem 64 Seiten starken Regierungsprogramm verspricht, könnte ihm das sogar gelingen. Der CDU/CSU und anderen Türkei-Skeptikern in Europa würde es bei Verwirklichung der Pläne in Zukunft schwerer fallen, von einer grundlegend anderen politischen Kultur in der Türkei zu sprechen.

Reformversprechen gehören zwar zu den Pflichtübungen jeder türkischen Regierung, doch Güls Pläne gehen weit über die übliche Rhetorik zu Beginn einer neuen Legislaturperiode hinaus. Zudem hat sich der Ministerpräsident mit der Veröffentlichung des Programms sehr stark festgelegt, denn er kann mit seiner sicheren Mehrheit im Parlament viele seiner Ankündigungen problemlos umsetzen. In der türkischen Öffentlichkeit wurden Güls Pläne als Meilenstein aufgefasst: Es sei, als werde eine ganz neue Republik gegründet, titelte das Massenblatt „Sabah“ am Sonntag.

Gül, dessen Partei für Recht und Entwicklung (AKP) wegen ihrer Wurzeln im politischen Islam von Justiz und Militär misstrausich beobachtet wird, vermied in seiner Regierungserklärung alles, was als islamistische Agenda hätte aufgefasst werden könnte. Die derzeitige Verfassung, die nach dem Militärputsch von 1980 von den Generälen diktiert wurde und viele Grundfreiheiten einschränkt, will Gül durch ein „partizipatorisches und freiheitliches“ Grundgesetz ersetzen. Die Meinungsfreiheit und andere Grundrechte sollen, ausgerichtet an den Kopenhagener Kriterien der EU, ausgeweitet werden. Verändern müsse sich aber auch die politische Kultur, sagte Gül ausdrücklich. Damit sprach er die in der Türkei weit verbreitete Tendenz an, das Wohl des Staates über das des Einzelnen zu stellen.

Gül will die Justiz dem Einfluss der Politik entziehen und die teilweise sehr langen Verfahren abkürzen. Bei der Bekämpfung der Korruption setzt der Regierungschef vor allem auf mehr Transparenz. Unter anderem sollen die Bürger ein Recht auf Auskunft über behördliche Vorgänge nach dem Vorbild des amerikanischen Informationsfreiheits-Gesetzes erhalten.

„Wir blicken voller Hoffnung in die Zukunft", schloss Gül seine Rede. Bei dem Reformprogramm kann sich der Ministerpräsident nicht nur auf die große AKP-Mehrheit von 363 der 550 Parlamentssitze stützen, sondern auch auf eine gestiegene Reformbereitschaft in der türkischen Öffentlichkeit.

Derweil rief der türkische Staatspräsident Ahmet Necdet Sezer die neue Regierung in Ankara auf, das Prinzip der Trennung zwischen Kirche und Staat zu respektieren. Insbesondere forderte er die seit der vergangenen Woche regierende Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) am Sonntag auf, das Kopftuch-Verbot für Frauen nicht zu lockern. In der Türkei ist es Frauen verboten, in der Schule oder Universität, als Bedienstete öffentlicher Einrichtungen oder zu offiziellen Anlässen ein Kopftuch zu tragen.

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