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Emmanuel Macron und Angela Merkel bei einer Pressekonferenz im August 2017 in Paris.

© Charles Platiau/Reuters

Vorbild Macron: Jamaikas Scheitern ist ein Segen für Europa

Eine Koalition von Union, FDP und Grünen hätte der EU Jahre des Stillstands beschert. Es fehlte die visionäre Kraft Emmanuel Macrons. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Harald Schumann

Die Kanzlerin ist angeschlagen, die Parteiführer sind ratlos, der Bundespräsident zürnt – das Ende der Breitband-Koalition noch vor ihrem Start verheißt den Deutschen scheinbar eine tiefe politische Krise und damit auch dem übrigen Europa. Ohne eine stabile Regierung in Berlin ist auch die Europäische Union kaum handlungsfähig. Das für Dezember anberaumte Gipfeltreffen der europäischen Regierungschefs für die große EU-Reform wird vermutlich mangels eines Mandats für die geschäftsführende Kanzlerin keine verbindlichen Ergebnisse bringen.

Doch so ärgerlich das auch scheinen mag, für die Zukunft der EU ist es ein Segen. Denn wäre die von Angela Merkel und ihren grünen Partnern so sehnlich gewünschte Koalition mit CSU und FDP tatsächlich zustande gekommen, dann hätte sie der europäischen Politik nicht nur ein paar Monate, sondern Jahre des Stillstands beschert. Daran ließ das letzte bekannt gewordene Verhandlungsdokument keinen Zweifel. Die einzige von allen vier Parteien getragene Forderung zur Europa-Politik war ausgerechnet die „konsequente Anwendung des Stabilitäts- und Wachstumspakts“.

Dabei war es gerade die Durchsetzung dieser willkürlich gesetzten Defizit-Regeln, die den Euroländern – anders als den USA oder Großbritannien – nach dem Lehman-Crash eine zweite tiefe Rezession bescherte. Erst als die EU-Kommission die Auflagen lockerte, begann die europäische Konjunktur wieder anzuziehen. Das erwies sich zuletzt wieder im von Ex-Finanzminister Wolfgang Schäuble gescholtenen Portugal. Der dortigen Linksregierung bescherte die Aufhebung der verordneten Kürzungen so viel wirtschaftliche Dynamik und Steuereinnahmen, dass sie vergangene Woche vorzeitig mit der Rückzahlung der gewährten Notkredite begann.

Macrons Ideen würden zu einem europäischen Gesetzgeber führen

Kein Wort dagegen fanden die nun gescheiterten Koalitionäre zu den Reformideen des französischen Präsidenten. Dabei öffnet doch gerade die visionäre Kraft von Emmanuel Macron eine „historisch einzigartige Chance“, wie der Philosoph Jürgen Habermas schrieb. Macron fordert ja keineswegs nur die Einführung eines gemeinsamen Budgets der Euroländer, um künftige Krisen besser abfedern zu können. Vielmehr müsse der gemeinsame Haushalt „einhergehen mit einer starken politischen Steuerung durch einen gemeinsamen Minister und eine anspruchsvolle parlamentarische Kontrolle auf europäischer Ebene“, sagt Frankreichs Präsident. Zugleich setzt er sich für die Aufstellung europäischer Kandidatenlisten zum EU-Parlament ein.

Das würde die bisherige Versammlung nationaler Parteienvertreter in einen europäischen Gesetzgeber verwandeln, dessen Mitglieder allen EU-Bürgern von Irland bis Griechenland verpflichtet sind und nicht nur ihrer heimischen Klientel. Macron bietet also an, in der EU endlich jene Demokratisierung nachzuholen, die Europas Regierungen ihren Bürgern schon so lange verweigern. Es gehe Frankreichs Präsident, schrieb Habermas, um nichts weniger als „die Umstellung des europäischen Elitenprojekts auf eine Selbstgesetzgebung der Bürger“.

Das Ende von Jamaika bietet eine zweite Chance

All das behandelten die vermeintlich pro-europäischen Parteien in Deutschland bisher mit einer für die übrigen Europäer geradezu provozierenden Ignoranz. Aus Furcht vor den Neo-Nationalisten rührten sie das Thema lieber gar nicht erst an und spielten der AfD dadurch erst recht in die Hände. Insofern bietet das Ende der Jamaika-Illusion der deutschen Politik-Elite auch eine zweite Chance, um einen schweren Fehler zu korrigieren.

Käme es zu Neuwahlen, könnten die Parteien im dann anstehenden Wahlkampf der Europa-Politik den Raum geben, der ihr zusteht – und, ja, sie könnten von Macron lernen. Schließlich vollbrachte der Aufsteiger aus Frankreich, was seit Jahrzehnten keinem europäischen Spitzenpolitiker mehr gelang: Er stellte die Zukunft des europäischen Projekts in den Mittelpunkt seines Programms und gewann dafür eine breite Mehrheit. Solche Politiker braucht Europa – auch in Deutschland.

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