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Wachablösung, zweiter Teil: Der Kampf um Ägyptens Spitze

Mohammed Mursi hat den Obersten Militärrat in Ägypten entmachtet und die komplette Armeespitze entlassen. Was bedeutet das für Ägypten?

Ägyptens Öffentlichkeit ist sprachlos, die westlichen Staatschefs schweigen. Zeitungen am Nil sprechen von einer „Revolution“, andere befürchten eine „Diktatur der Muslimbruderschaft“. In den politischen Talkshows kursieren die wildesten Spekulationen, während sich Hauptakteur Mohammed Mursi, der neue Präsident Ägyptens, nach seinem politischen Paukenschlag betont leutselig gab. „Ich habe im besten Interesse des Landes gehandelt“, erklärte er bei einer kurzen Ramadanansprache in der angesehenen Al-Azhar-Universität. „Wir müssen zu neuen Horizonten aufbrechen, mit neuen Generationen und frischen Kräften“, fügte er hinzu.

Was hat Mursi genau beschlossen?

Ägypten erlebt das schwerste politische Erdbeben seit dem Sturz von Hosni Mubarak. Niemand kann sagen, welche Erschütterungen in den nächsten Tagen noch folgen werden und ob die Armee Mursis Handstreich vom Sonntag so einfach hinnehmen wird. Mit seinen Dekreten hat der Muslimbruder auf dem Präsidentensessel nicht nur den allgewaltigen Obersten Militärrat (SCAF) entmachtet, sondern gleichzeitig auch die komplette Armeespitze entlassen. Mohammed Mursi beansprucht künftig allein die volle Gewalt von Exekutive und Legislative, kontrolliert den Haushalt, kann Gesetze erlassen und ersetzt das Parlament, welches Mitte Juni vom Verfassungsgericht aufgelöst worden war.

Video: Mursi setzt Militärspitze ab

Darüber hinaus entzog der Staatschef dem Obersten Militärrat die gesamte Autorität über die Verfassungsgebende Versammlung. Bislang hatten sich die Generäle das Recht vorbehalten, das 100-köpfige Plenum aufzulösen und seine Zusammensetzung nach eigenem Gutdünken neu zu bestimmen, falls es beim künftigen Grundgesetz zu keinem Konsens kommt. Jetzt beansprucht Mohammed Mursi dieselbe Macht für sich und könnte die Verfassungsgebende Versammlung, sollte das gegenwärtige Gremium vom Obersten Verwaltungsgerichts doch noch annulliert werden, ganz nach seinen Vorstellungen zusammenstellen.

Gleichzeitig schickte der Präsident die gesamte Führung der Armee in den Ruhestand, allen voran den seit 1991 als Verteidigungsminister und seit dem 11. Februar 2011 als Chef des Obersten Militärrates amtierenden Mohammed Hussein Tantawi. Zusammen mit dem 76-jährigen Feldmarschall abgelöst wurden auch der Oberste Befehlshaber der Armee, Generalleutnant Sami Anan, der Chef der Luftwaffe, Luftmarschall Reda Mahmoud Hafez, der Chef der Luftabwehr, Generalleutnant Abd al Aziz Seif-Eldeen, sowie der Chef der Marine, Vize-Admiral Mohab Mamish.

Zuvor hatten bereits nach Angriffen von Extremisten auf ägyptische Militärposten auf dem Sinai Geheimdienstchef Murad Mufawi und der Gouverneur der Provinz Nord-Sinai, Abdel Wahab Mabruk, ihr Amt verloren. Auch der Oberbefehlshaber der Militärpolizei, Hamdi Badin, wurde entlassen.

Was bedeuten diese Entscheidungen?

Selten zuvor in der jüngeren Geschichte Ägyptens hat es einen solch massiven Eingriff in die Befehlsstruktur der ägyptischen Streit- und Sicherheitskräfte gegeben – und das ausgerechnet von einem Präsidenten, der anders als seine drei Vorgänger nicht aus den Reihen der Armee stammt. Neuer Verteidigungsminister ist jetzt Generalmajor Abdel Fattah al Sissy, bislang Chef des Militärgeheimdienstes. Zum neuen Chef der Streitkräfte machte Mursi Generalmajor Sedky Sobhy.

Am selben Tag berief Mursi mit Mahmoud Mekki den ersten seiner vier Vizepräsidenten, einen Mann, der den Staatschef in seinen brisanten juristischen Manövern berät. Mekki galt schon unter Mubarak als unabhängiger Kopf, der als Richter mehrfach öffentlich gegen die damaligen Wahlmanipulationen des Regimes protestierte und für eine unabhängige Justiz eintrat. Erst vergangene Woche war sein Bruder Ahmed Mekki zum Justizminister ernannt worden und hatte dafür sein Amt als Vizechef des Obersten Revisionsgerichts niedergelegt. Beide Brüder hatt nie einen Hehl daraus gemacht, dass sie die vom Verfassungsgericht Mitte Juni verfügte Auflösung des Parlaments für Unrecht halten.

Wie reagieren die Ägypter?

Hals über Kopf trommelten die Muslimbrüder tausende Anhänger auf dem Tahrir-Platz zusammen, die dort seitdem ausharren und Mursis dramatischen Konfrontationskurs gegen das Militär mit Sprechchören feiern. „Wir haben immer wieder gesungen: ’Nieder mit der Militärherrschaft’“, jubelte einer der Aktivisten. „Heute ist es endlich Wirklichkeit geworden.“ Lob kam auch von der Demokratiebewegung „6. April“, die Mursis Vorgehen als „ersten Schritt zur Etablierung eines zivilen Staates“ begrüßte. Andere skandierten: „Mursi, das Volk steht hinter dir“ und „Wir sind hundert Prozent für die Dekrete des Präsidenten“.

Welche Bedeutung hat das Militär noch?

Allen entlassenen Generälen und Marschällen ließ Mursi allerdings ihren Kommandoverlust mehr oder weniger stark vergolden. Tantawi und Anan ernannte er zu seinen Beratern, mit ihren Entlassungsurkunden erhielten beide den höchsten Ehrenorden des Landes an die Brust geheftet. Ex-Marinechef Mamish wurde neuer Präsident der lukrativen Suezkanal-Behörde, Ex-Luftwaffenchef Hafez Minister für die Militärproduktion, Ex-Luftabwehrchef Seif-Eldeen Vorsitzender der Arabischen Organisation für Industrialisierung – alles Schlüsselposten im dem großen Wirtschafts- und Finanzimperium des Militärs.

Denn die ägyptische Armee ist mit 486 000 Mann nicht nur eine eine große Streitmacht. Sie unterhält auch einen weit verzweigten Wirtschaftskonzern, dessen Anteil am ägyptischen Bruttosozialprodukt auf mindestens 20 Prozent geschätzt wird. Den Offizieren gehören nicht nur Rüstungsbetriebe, sondern auch Konzerne der Lebensmittelindustrie. Selbst in der Tourismusbranche und beim Straßenbau mischen sie mit. Abgesehen davon besitzt das Militär riesige Ländereien im Nildelta und an der Küste des Roten Meeres.

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