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Wahl in Belgien: Das neue Parlament wird vor alten Problemen stehen

Nach dem Sturz der Regierung im Sprachenstreit entscheidet Belgien über ein neues Parlament. Es wird vor alten Problemen stehen.

Brüssel - Am liebsten würde Nelly Willame die Wahl am Sonntag schwänzen. Aber dann müsste sie 50 Euro Strafe zahlen. Belgien ist eines der wenigen Länder mit einer Wahlpflicht. Zu oft schon hat die 65-Jährige Regierungen zerbrechen sehen. In den 65 Jahren seit Kriegsende hat das kleine Königreich mit seinen zehn Millionen Einwohnern 43 Regierungen zerschlissen. Die vorerst letzte des christdemokratischen Ministerpräsidenten Yves Leterme zerbrach nach drei chaotischen Jahren Ende April. Am Sonntag wählt Belgien also das nächste Parlament – Nelly Willame sagt: „Das bringt doch alles nichts.“ Denn wieder droht dem Land eine monatelange Lähmung. Nach den Wahlen 2007 hatte es neun Monate gedauert, eine Regierung zu bilden.

Schon vor dem Urnengang gilt es als sehr unwahrscheinlich, dass sich die beiden Sprachgruppen des Landes, die Flamen und die frankophonen Wallonen, danach auf eine Regierung einigen – zwei Wochen vor dem Beginn der belgischen EU-Ratspräsidentschaft. Der Streit zwischen Flamen und Frankophonen über die Staatsstruktur und die Verteilung der Kompetenzen zwischen Föderalregierung und Regionen paralysiert das Land seit Jahren: Die Flamen wollen mehr Rechte für ihre Region, die Frankophonen verteidigen den Föderalstaat. Zudem versinkt Belgien in seinen Staatsschulden und zählt mittlerweile zu den Sorgenkindern der Eurozone.

Landesweite Parteien gibt es nicht

In Belgien gibt es keine landesweiten Parteien: Die Flamen stimmen für flämische, die Frankophonen für französischsprachige Politiker. In den Umfragen liegt in Flandern die nationalistische NV-A mit über 25 Prozent der Stimmen weit vorne. Ihr Spitzenkandidat Bart De Wever ist eine Hassfigur im frankophonen Teil des Landes. Er kämpft für die Unabhängigkeit Flanderns und fordert die Teilung Belgiens. Dafür wollen ihn 46 Prozent der Flamen als Premierminister. Mit ihm müssten die frankophonen Parteien nach der Wahl theoretisch auch ein Bündnis eingehen, denn traditionell tun sich die jeweils stärksten Parteien aus beiden Landesteilen in einer Koalition zusammen. In der Wallonie liegen allein die Sozialdemokraten zurzeit über 30 Prozent – und haben eine Zusammenarbeit mit De Wever kategorisch ausgeschlossen.

Grund für den ewigen Streit sind seit Jahrzehnten gewachsene regionale Eifersüchteleien: Flandern, der niederländischsprachige Norden, ist wirtschaftlich stärker. In Wallonien im Süden wird französisch gesprochen. Doch auch jenseits der Sprachen haben beide Landesteile kaum noch etwas miteinander zu tun: Ob Medien oder Parteien – alles wurde im Lauf der Zeit in Norden und Süden gespalten; seit den 70er Jahren wurden der Föderalregierung fast alle Kompetenzen genommen. Nur die Hauptstadt Brüssel ist offiziell zweisprachig. Die Stadt, in der über 80 Prozent der Einwohner französischsprachig sind, die aber vollständig in Flandern liegt, wächst rasant. Und dann gibt es noch BHV: Die Abkürzung steht für den Wahl- und Gerichtsbezirk Brüssel-Halle- Vilvoorde, der einzige Wahlbezirk, in dem noch gemeinsam für flämische und frankophone Parteien gestimmt werden kann. Der Verfassungsgerichtshof erklärte diese Sonderregelung 2003 für nicht rechtens, seither wird über eine Lösung gestritten. Yves Leterme scheiterte daran als Regierungschef ebenso wie schon sein Vorgänger. Die Flamen würden den Wahlbezirk gern aufspalten, doch dann könnten die Frankophonen im Umkreis von Brüssel nicht mehr für französischsprachige Parteien stimmen. In manchen Gemeinden bilden sie aber über 80 Prozent der Einwohner. Deswegen fordern die Wallonen den Anschluss einiger Gemeinden an Brüssel – undenkbar für die Flamen.

Die kleinen Schikanen der flämischen Regionalregierung

Auch Nelly Willame wohnt in einer der BHV-Gemeinden, seit 44 Jahren, obwohl sie Wallonin ist: „Das alles ist nur ein Problem der Politiker“, sagt sie. Viele Belgier denken wie sie. Ein tiefer Graben verläuft zwischen ihnen und den Politikern.

„Das belgische System ist viel zu kompliziert“, konstatiert auch Myriam Delacroix-Rolin. Die hagere Frau ist frankophon, wird aber von ihrer flämischen Gemeinde Sint-Genesius-Rode südlich von Brüssel seit 22 Jahren wieder und wieder zur Bürgermeisterin gewählt. 66 Prozent der Bevölkerung sind hier französischsprachig, Tendenz steigend. Die beiden Sprachgruppen leben friedlich zusammen. Auch deswegen kandidiert Delacroix-Rolin nun gemeinsam mit drei weiteren Bürgermeistern der BHV-Gemeinden nun erstmals fürs Parlament. Was in ihrer Gemeinde funktioniert, glaubt sie, müsse auch auf nationaler Ebene möglich sein. Sie steht im Garten ihres alten Hauses und deutet auf die Straße dahinter: „Die Chaussee de Waterloo verläuft von Brüssel bis nach Wallonien.“ Genau 3,6 Kilometer lang führt sie durch flämisches Gebiet. „Der Bus, der hier durchfährt, muss für diese Kilometer die Anzeige auf Niederländisch umstellen“, sagt sie.

Es sind diese kleinen Vorschriften der flämischen Regionalregierung, die die tägliche Arbeit erschweren: Schilder, die nur auf Französisch aufgestellt werden, hängt die Region wieder ab. Finanzielle Unterstützung gibt es nur für flämische Einrichtungen. Wer seine Papiere auf Französisch erhalten will, muss jedes Mal einen Antrag stellen. „Um den Zuzug der Frankophonen zu erschweren“, erzählt Delacroix-Rolin, müsse man in manchen Bereichen zuvor sechs Jahre am Ort wohnen.

Doch Renten- und Sozialsysteme sind reformbedürftig, der Schuldenstand steigt bedrohlich. Auch das liegt am Gleichberechtigungswahn, der der einen Seite Investitionen zugesteht, wenn die andere welche erhalten hat. Nelly Willame, die ihren Balkon zur Wahl mit schwarz- gelb-roten Farben schmückt, findet: „Belgien ist so ein tolles Land, es wäre schade, wenn es das nicht mehr geben würde.“

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