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Arzt im Widerstand. Sadiqu al Mousllie verließ Syrien vor mehr als zwanzig Jahren aus Wut auf den „korrupten, diktatorischen Staat“.

© Stefan Jaitner

Wahl in Syrien: Sadiqu al Mousllie im Fernkampf gegen Baschar al Assad

Sadiqu al Mousllie ist der offizielle Vertreter der syrischen Opposition in Deutschland. Dass Präsident Assad an diesem Dienstag wieder gewählt wird, kann er nicht verhindern. Aber aufgeben kann er auch nicht – selbst wenn sein Einsatz seine Familie gefährdet.

Irgendwann im Frühjahr 2013 erfährt er, dass der Geheimdienst bei seiner Mutter war. Sie fragen nach ihm und seinen Brüdern, und sie drohen unmissverständlich. Entweder, sagen die Männer, ihre Söhne bekämen lebenslänglich oder, das sei wahrscheinlicher, würden „liquidiert“.

Sadiqu al Mousllie, 43 Jahre alt, seit mehr als 20 Jahren in Deutschland und seit 2012 Mitglied des Syrischen Nationalrats, bekommt Panik. Er weiß, „wenn die Geheimen einmal da waren, kommen sie wieder“. Es bleibt jetzt nur sehr wenig Zeit, um die eigene Mutter rauszuholen aus einem Land, in dem in den vergangenen drei Jahren mehr als hunderttausend Menschen getötet worden sind.

Er bemüht per Skype alle seine verbliebenen Kontakte im Land, und wenige Tage später flieht die Mutter mit 70 Jahren aus ihrer Heimat Syrien, verlässt ihr geliebtes Damaskus, kommt erstmals nach Deutschland. Und auch zwei Brüder, einer gemeinsam mit seiner schwangeren Frau, entkommen über Ägypten. Nach Braunschweig.

Das ist der Tag, an dem die zwei Welten des Sadiqu al Mousllie sich unwiderruflich ineinanderschieben.

An einem Samstag Ende Mai sitzt Sadiqu al Mousllie in seiner Praxis in Braunschweig. Der Zahnarzt ist groß gewachsen, mit einem noch immer sehr jugendlichen Gesicht und herzlichem Lachen. Es riecht nach Desinfektionsmitteln, die Wand im Warteraum ist in warmen Rottönen gestrichen.

"Die schlimmste humanitäre Katastrophe nach Ruanda"

Er will reden über diese beiden Welten, über sein Leben, das sicher und behütet und zugleich gefährdet ist. Über seine bis dato weitestgehend heile Welt als deutscher Staatsbürger mit seinen fünf Kindern und seiner dänischstämmigen Frau und über seinen gefährlichen Kampf für die Freiheit eines Landes, das er gar nicht mehr betreten darf. Einen Kampf, den er trotz seiner Aussichtslosigkeit nicht aufgeben kann, der ihn an die körperlichen Belastungsgrenzen bringt und der ihn frustriert und zornig macht. Auch Braunschweig, die Stadt, in der er ein angesehener Mann ist, gehört zum Rest einer Welt, sagt er, „die mein Volk erst im Stich gelassen und dann vergessen hat“.

Einige seiner Kinder waren selbst noch nie in Syrien, letztens wurde ihm klar, wie skurril seine eigene Situation doch ist. Da sagte seine jüngste Tochter, drei Jahre alt, stolz zu ihm: „Papa, ich weiß, wo Syrien liegt. Da, wo du die Fahne gehalten hast.“ Sie meinte den Schlossplatz in Braunschweig, wo der Vater für eine Woche aus Solidarität in den Hungerstreik getreten war.

Sadiqu al Mousllie ist der offizielle Vertreter der syrischen Opposition in Deutschland. Gleichzeitig weiß er, dass er ohne Einfluss ist. An diesem Dienstag wird in Syrien ein neuer Präsident gewählt, und jeder weiß, dass dieser Präsident der alte sein wird: Baschar al Assad. Er sagt: „Wer soll denn wählen, die Hälfte der Menschen ist obdachlos. Die Wahl ist eine Farce. Assad und seine Unterstützer beleidigen mit diesem Verhalten jedes demokratische Denken.“ 150 000 Tote, 6,5 Millionen Binnenvertriebene, 2,6 Millionen syrische Flüchtlinge im Ausland und eine Weltgemeinschaft, die nicht weiß, was sie tun soll. Das ist die Situation drei Jahre nach Ausbruch des Aufstandes, der sich schon lange zu einem unübersichtlichen, grausamen Krieg entwickelt hat.

Längst ist das ganze Land zum Aufmarschgebiet von Terroristen und fanatischen Gotteskämpfern geworden, die Fronten verlaufen kreuz und quer, der friedliche Ursprungsgedanke der Revolution: vergessen. „Das Ausmaß des Konfliktes in Syrien ist beispiellos“, sagen Vertreter des Internationalen Roten Kreuzes. „Die schlimmste humanitäre Katastrophe nach Ruanda“, sagen die Vereinten Nationen.

Vom syrischen Geheimdienst beobachtet

Als der Aufstand 2011 als Ausläufer der Arabischen Revolution in Syrien begann, hatte al Mousllie auch fern der Heimat diesen Drang gespürt, etwas tun zu müssen. Etwas zurückgeben zu müssen, weil er fortgegangen war aus Wut gegen die täglichen Repressionen des Regimes. Für ihn war es ein Wunder, dass sein Volk tatsächlich aufbegehrte. Er fragt: „Wie hätte ich stillhalten können, wenn die dort ihr Leben riskieren?“

Sadiqu al Mousllie hat sich in Deutschland für die Integration von Muslimen engagiert, hat nach dem 11. September gegen Islamophobie angeredet, ist Vorsitzender der Islamischen Gemeinschaft Braunschweig. Nun ist er auch noch syrischer Oppositioneller – beobachtet vom syrischen Geheimdienst und dessen Informanten in Deutschland.

Gleich zu Beginn der ersten Demonstrationen in Syrien knüpft al Mousllie sein Netzwerk, auch über seine im Land verbliebenen Brüder. Sie werden zu Aktivisten. Es geht um „Brot, Freiheit und Würde“. Um Reformen. Er betont es in diesem Gespräch immer wieder: Den Aufständischen ging es am Anfang „nicht um Religion!“.

Acht Monate lang wird es friedlich bleiben, acht Monate voller Elan und Aufbruchstimmung. Botschaften werden in Luftballons verpackt, Handzettel in Briefkästen gesteckt. Er lässt in Braunschweig Plakate malen, Fahnen herstellen, führt Gespräche mit Journalisten und Aktivisten, sammelt Geld, geht in deutsche Talkshows, hält öffentliche Vorträge.

Doch schon diese Aktionen kosten ihn einen hohen Preis. Zum Schutz und aus Vorsicht bricht er den Kontakt zu seiner Familie in Syrien ab. Der Mutter lässt er übermitteln: „Sagt denen vom Regime, wenn sie kommen, das ist nicht mehr unser Sohn!“ Denn dass sie kommen, war ihm klar.

Der Zahnarzt schart Informatiker um sich und andere Mitstreiter, sie initiieren Demonstrationen über Skype, schmuggeln kleine Kameras ins Land, die man sich ans Revers heften kann, und stellen die Videos von Demonstrationen „in Echtzeit“, wie al Mousllie sagt, ins Netz oder leiten sie an Sender wie Al Dschasira und Al Arabiya weiter.

Nicht jeder überlebt sein Engagement. Al Mousllie erzählt von einem syrischen Studenten und Aktivisten in Istanbul, der sagte: „Ich fühle mich hier in der Türkei so nutzlos, ich muss zurück.“ Kurz nach dem Gespräch starb er, als ein Vorort von Damaskus beschossen wurde.

Al Mousllie ist ein Mann, der sich seine Emotionen selten anmerken lässt. Als er von dem letzten Telefonat mit seinem Mitstreiter redet, den er für seinen Mut bewunderte, überkommen ihn jedoch die Tränen.

Wochen und Monate schläft al Mousllie kaum. Die Treffen über Skype gehen weiter, teilweise mit bis zu 15 Aktivisten aus fünf Ländern. Sie finden nachts statt. Und sie dauern. Er reist nach Istanbul und nimmt an Konferenzen der syrischen Opposition teil, dann wird der Syrische Nationalrat nach zähen Diskussionen gegründet.

Erst war da so viel Hoffnung, dann nur noch der Krieg.

Für uns oder gegen uns

Sein Einsatz zehrt an ihm, doch damals, erzählt Sadiqu al Mousllie, habe er endlich gewusst, wohin er mit all seiner Wut sollte, die er so viele Jahre mit sich herumgetragen hatte. Er ist elf Jahre, als er auf dem Balkon des Elternhauses in Damaskus steht und sieht, wie Männer mit Waffen mitten in der Stadt einen anderen Mann verhaften und brutal auf ihn einschlagen, bis er blutet, auch als er schon am Boden liegt. Geheimdienstler, heißt es.

Als er 14 ist, lebt er mit seiner Familie in Kuwait, wo der Vater Arbeit hat, aber in den langen Sommerferien sind er und seine vier Geschwister immer zu Hause beim großen Familienclan in Damaskus. Eines Tages klopft es an der Tür, der junge Sadiqu öffnet. Ein Fremder steht vor ihm und will seinen Onkel sprechen. Al Mousllie fragt: „Wer sind Sie überhaupt?“ Der Mann antwortet: „Ich bin der Staat.“

Der junge Sadiqu lernt an diesem Tag, dass man besser schweigt, als zu viel zu fragen oder öffentlich von sich preiszugeben. Für uns oder gegen uns, sagt er, laute das Motto. Und wer gegen Partei und Regierung sei, gegen Assad, werde behandelt wie ein Rechtloser.

Es ist die alltägliche Degradierung und Diskriminierung, die seiner und anderen Familien zu schaffen macht. Sein Cousin und seine Cousine dürfen nicht studieren, weil, wie er sagt, der Vater nicht Mitglied der allmächtigen Baath-Partei ist. Er selbst kommt mit einem Top-Abitur aus Kuwait zurück nach Syrien, er will ein Medizin- oder Ingenieursstudium beginnen, aber seine Noten werden willkürlich herabgestuft, er bekommt nicht den Studienplatz, den er erhofft hatte. An diesem Tag im Mai in Braunschweig regt ihn diese Erinnerung noch immer auf.

Sadiqu al Mousllie ist bis heute davon überzeugt, dass es dieser „korrupte, diktatorische Staat ist, der versucht, alle Lebensbereiche der Menschen zu kontrollieren, von dem viele die Nase voll hatten“. Er sagt: „Die wollen dich korrumpieren. Dieses Land darf nicht so bleiben.“ Dann geht er nach Deutschland.

"Wir sind keine Barbaren, wir sind ein friedliches Volk"

Wie viele andere Syrer auch will Sadiqu al Mousllie etwas lernen und später sein Wissen im eigenen Land anwenden. Er lernt zuerst die deutsche Sprache in Murnau, studiert dann in München, wo er auch seine Frau kennenlernt, und später in Würzburg. Er jobbt nebenbei in Bäckereien, Speditionen, Versicherungen, „ich habe alle Studentenjobs angenommen, das hat mich menschlich bereichert“. Er wird erst Zahnarzt in der Würzburger Universitätsklinik, spezialisiert sich auf Implantologie, später macht er sich in Braunschweig selbstständig. Alle fünf Kinder werden in Deutschland geboren, drei Jungen, zwei Mädchen.

Er hat viele deutsche Freunde, er ist integriert in ein normales, bürgerliches Leben in Braunschweig. Seine Patienten sind stolz auf ihren Zahnarzt und freuen sich, wenn er mal wieder im Fernsehen ist oder in der Zeitung steht. Gleichzeitig weiß er von so viel Leid, das jenseits jeder Vorstellungsschwelle seiner deutschen Freunde geschieht.

In Syrien wird eine Familie mit zwei Kindern, die er gut kennt, in einem Vorort festgehalten. Der Vater wird beschuldigt, ein Revolutionär zu sein. Er beteuert seine Unschuld, sie nehmen seinen jüngsten Sohn mit, zehn Jahre. Verzweifelt versucht die Familie eine Woche lang, das Kind freizubekommen. Schließlich wird der Junge den Eltern übergeben, sitzt den ganzen Tag regungslos im Zimmer und stirbt am Abend. Es stellt sich heraus, dass er schwer misshandelt und missbraucht worden ist.

Al Mousllie kennt noch viel mehr solcher Begebenheiten, aber er will nicht, dass sein Land darauf reduziert wird. „Wir sind keine Barbaren, wir sind ein friedliches Volk“, sagt er und fügt trotzig an, „und wir werden wie Phönix aus der Asche steigen.“ Doch der Kampf für dieses Ziel, das weiß er, ist von Braunschweig aus nicht zu gewinnen. Nicht für ihn. Das wird ihm klar, als sein Sohn eines Tages vor ihm steht und ihn fragt: „Papa, warum besucht uns eigentlich niemand mehr? Und warum machen wir nichts mehr zusammen?“

Es ist der Moment, als Sadiqu al Mousllie realisiert, welchen Preis er für sein Engagement zahlt, dass seine kleine, heile Welt in Braunschweig nur schwer existieren kann neben der kaputten Welt Syriens. Al Mousllie selbst hat immer wieder Momente, wie er sagt, in denen er sich fühlt „wie ein Versager, weil ich ja doch niemand schützen kann“. Nur sein großer Optimismus hält die aufsteigende Resignation noch in Schach.

Kürzlich haben sie in der Familie wieder mal geredet über das, was geschehen ist. Einer seiner Brüder, der sein Leben neu beginnen musste, hat ihn gefragt: „Sadiqu, warum hast du dich so entschieden, wenn du wusstest, du bringst auch uns in Gefahr?“ Da hat Sadiqu al Mousllie geantwortet: „Es musste doch sein. Nichts tun, das wäre Verrat an den Toten.“

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