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Die Erinnerung an den Krieg ist in Bosnien allgegenwärtig.

© Nadine Lange

Wahlen: Bosnien: Der gescheiterte Staat

Am Sonntag wird in Bosnien gewählt. Demokratisch. Aber beherrscht wird das Land von Korruption.

Hunde und Waffen sind verboten. Aber rauchen darf man im „Becka kafana“, einem schicken holzvertäfelten Kaffeehaus am Rande der Altstadt von Sarajevo. Predrag Kojovic, 45, dreht sich eine Zigarette. Hier Tabak, da Papier, ein paar Handgriffe, ein bisschen Spucke, zwei Dinge werden eins, werden etwas, das funktioniert. In diesem Fall ganz einfach.

Kojovic hat schulterlange, blonde Haare und wirkt so abgekämpft wie ein Rockgitarrist nach einer langen Tournee. Und irgendwie stimmt das auch, denn er ist viel herumgekommen. Er war jahrelang Kriegsreporter, berichtete erst für eine große Nachrichtenagentur von den Kriegen im zerfallenden Jugoslawien, später war er in Somalia, Ruanda, Pakistan und mehrmals im Irak. „Ich war als embedded journalist dabei, als 2004 Saddam Hussein gefangen wurde“, sagt er. „Danach habe ich beschlossen, dass ich nicht mehr an Orte reise, an denen es nicht jeden Tag eine heiße Dusche gibt.“ Er ging nach Washington, war vier Jahre lang Korrespondent im Weißen Haus, dann war die Tournee 2008 beendet, er kehrte zurück. Nach Sarajevo.

Hier ist er aufgewachsen, hier hat er Jura studiert und hier will er als Schriftsteller mit seiner amerikanischen Freundin leben. Doch der Zustand seines Landes hat ihn geschockt. „Es ist ein Ort, an dem man nicht leben kann“, sagt Kojovic. „Ein gescheiterter Staat“. Empört stellt er sein Tässchen mit dem türkischen Kaffee ab. Mit noch immer finsterem Blick schaut er auf das Treiben vor den großen Glasfenstern. Da spazieren Besucher in Richtung historischer Altstadt. Der Tourismus läuft langsam wieder an: Es herrscht reges Treiben in den engen Gassen mit Kunsthandwerksgeschäften und traditionellen Restaurants. Die Speisekarten sind meist zweisprachig. An den Souvenirständen gibt es Trikots des in Wolfsburg kickenden Nationalstürmers Džeko. Sie hängen direkt neben denen von Barça-Superstar Messi.

Der gescheiterte Staat. Weil hier nach dem Vertrag von Dayton Teile zu einem Ganzen werden sollten, es aber trotz vieler Handgriffe und einer Menge Spucke nicht wurden. Das Land steht weiter unter EU-Überwachung, die größte politische Macht hat Valentin Inzko, der Hohe Repräsentant der Union. Und immer noch sind 2000 Eufor-Soldaten hier stationiert. Es ist ein Land, das aus zwei Teilen besteht: der „Föderation von Bosnien und Herzegowina“ und der „Republika Srpska“. In ihm leben muslimische Bosniaken, katholische Kroaten und orthodoxe Serben ohne jedes Wir-Gefühl nebeneinanderher. Hunderte Posten in den Verwaltungen werden nach ethnischen Schlüsseln vergeben, in Gebieten mit gemischter Bevölkerungsstruktur wird der Schulunterricht oft nach Volksgruppen getrennt durchgeführt, Lehrpläne und Schulbücher sind unterschiedlich. Dazu kommt die wild wuchernde Bestechungskultur.

Transparency International führt Bosnien und Herzegowina auf seiner aktuellen Korruptionsliste zusammen mit Ländern wie Sambia, Jamaika oder der Dominikanischen Republik auf Rang 99. Selbst in Rumänien, Griechenland oder Kolumbien wird demnach weniger bestochen. „Die Politiker streiten auch gar nicht ab, dass sie kriminell sind“, sagt Predrag Kojovic wütend. „Ihre Verteidigung lautet: Das machen schließlich alle hier.“

Die Wut darüber hat er auch an jenem Abend vor zwei Jahren empfunden, als er mit seinen Freunden, dem Theaterregisseur Dino Mustafic und dem Filmemacher Danis Tanovic, beim Rotwein zusammensaß. Sie debattierten über ihr Land und fanden, so könne es nicht weitergehen. Man müsste etwas tun. Und sie taten: Sie gründeten eine neue Partei mit dem Namen Naša Stranka (Unsere Partei). Gegen jeden Separatismus und Nationalismus, für Liberalität und Minderheitenrechte – ein äußerst unpopuläres Thema. Als im September 2008 das erste Queer Festival in Sarajevo stattfand, gab Naša Stranka eine Unterstützungserklärung heraus. „Wir wussten, dass wir dadurch 20 bis 30 Prozent unserer Mitglieder verlieren würden. Doch wir dachten uns: Wer nicht hinter dieser Sache stehen kann, ist in der falschen Partei“, erzählt Kojovic, der bei Tumulten während der Festival-Eröffnung verletzt wurde.

Die kleine multiethnische Intellektuellenpartei tritt am Sonntag bei den Parlamentswahlen an. Ob sie den Sprung über die Drei-Prozent-Hürde schaffen kann, ist schwer abzuschätzen. Unabhängige Demoskopie-Institute gibt es in Bosnien und Herzegowina nicht, weshalb sich die Parteien immer wieder gegenseitig bezichtigen, Umfrageergebnisse zu erfinden. Bei einer im August durchgeführten Studie des amerikanischen National Democratic Institut kam Naša Stranka auf 1,2 Prozent, da waren allerdings 20 Prozent der 2000 Befragten noch gänzlich unentschieden.

Das größte Zugpferd von Naša Stranka ist Danis Tanovic. Seit er 2002 mit dem Kriegsdrama „No Man’s Land“ einen Oscar gewann, kennt ihn hier jeder. Nach der Preisverleihung empfingen ihn in Sarajevo tausende Menschen. Er reckte die goldene Trophäe in den Himmel und rief: „Das ist für Bosnien! Das ist für euch!“

Seine nächsten beiden Spielfilme drehte der heute 41-Jährige im Ausland. Vor drei Jahren kehrte er schließlich nach Sarajevo zurück. Damals ging es ihm genau wie Kojovic – er empfand die Lebensbedingungen in seiner Heimat als unwürdig und unerträglich. Vor allem für seine fünf Kinder will er mit Naša Stranka daran etwas ändern. „Ich liebe mein Land aus ganzem Herzen, aber ich kann hier nicht bleiben, wenn ich Angst haben muss, dass in fünf Jahren ein Typ eine Waffe auf meinen Sohn richten könnte“, sagt er.

Unbegründet ist diese Sorge nicht. Im Frühjahr spekulierten bosnische Medien, dass die nach dem Krieg überflüssig gewordenen Waffen nicht ordnungsgemäß vernichtet, sondern verkauft wurden. An die italienischen Mafiaclans, nach Afghanistan, an den Nachbarn. Eine Studie des UN-Entwicklungsprogramms von 2009 ergab, dass 16 Prozent der Bürger Bosnien und Herzegowinas illegal Waffen besitzen. Der Schwarzmarkthandel floriert. Und das in einem Land mit konstant schlechter wirtschaftlicher Lage.

Gleichzeitig ist viel Geld in den Wiederaufbau des Landes geflossen, die Spuren der serbischen Belagerung, die zwischen 1992 und 1995 rund 10 000 Menschen das Leben kostete, sind größtenteils beseitigt – sieht man einmal ab von den zahlreichen Einschusslöchern in den Fassaden. Das Geld kam aus Europa, das sich aber nicht wirklich für die Zukunft des Landes interessiert, und es kam aus den arabischen Ländern, erkennbar vor allem an den Gotteshäusern. In Sarajevos Altstadt hat etwa Saudi-Arabien die Renovierung der großen Gazi-Husrev-Beg-Moschee finanziert. Am 45 Meter hohen Minarett-Turm hängt an manchen Tagen die grüne Flagge des Königreichs, das seine Staatsreligion – den Wahhabismus – gerne in das Land exportieren würde. Diese extrem strenge Koranauslegung spielt jedoch verglichen mit dem traditionell eher liberalen bosnischen Islam kaum eine Rolle. Frauen in Burkas sieht man in Sarajevo kaum, das Kopftuch ungefähr so oft wie in Berlin-Kreuzberg.

Die Probleme sind ohnehin andere. Die Arbeitslosigkeit betrug 2009 offiziell 24 Prozent (Serbien: 16, Kroatien: neun Prozent). Real dürfte die Zahl jedoch weit höher sein, Schätzungen gehen von bis zu 40 Prozent aus. Der durchschnittliche Lohn beträgt umgerechnet rund 400 Euro im Monat. Eine Supermarktverkäuferin verdient bei einem Zehnstunden-Tag etwa 250 Euro – wenn sie Pech hat, werden die auch noch Monate zu spät ausbezahlt.

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Predrag Kojovic kennt diese Probleme. „Alles hier ist schlechter als noch 1997 oder 2000“, sagt er, „vor allem psychologisch: Die Apathie der Leute ist groß, die Hälfte geht gar nicht mehr zu den Wahlen. Sie glauben nicht daran, dass sie mit ihrer Stimme irgendetwas ändern können.“ Deswegen wollen er und Naša Stranka eine echte Alternative zu den meist nationalistisch ausgerichteten Parteien bieten. „Wenn wir es in die Regierung schaffen, wenn wir etwa sieben Sitze in den Bezirksparlamenten erringen und einige coole, clevere Leute dort sprechen und Fragen stellen, könnte das für junge Leute vielleicht das Licht am Ende des Tunnels sein“, sagt Kojovic.

Mit Aktionstagen, einer Facebook-Seite und einem Internetforum versucht die Partei vor allem, die jüngeren Wähler zu erreichen. Kojovic war in Chicago dabei, als Barack Obama seine Präsidentschaftskandidatur verkündete. Angelehnt an dessen Kampagne heißt es jetzt auf der Facebook-Seite von Naša Stranka: „Change in 2010? Imagine that ...“. Bisher hat sie etwas mehr als 5000 Freunde. Vor kurzem ist mit Rapper Frenkie ein prominenter Unterstützer dazugestoßen. Naša Stranka sei „die einzige bosnischherzegowinische Partei, die sich mutig und ohne Kompromisse für die Menschenrechte aller Bürger einsetzt“, schreibt der 28-Jährige im Magazin „Dani“.

Die Texte des Mannes aus Tuzla, der während des Krieges mit seiner Familie in Nürnberg gelebt hat, drehen sich häufig um soziale Missstände. In dem Song „Ovdje“ (Hier) beschreibt er sein Land in drastischen Worten: „Ich lebe auf dem Balkan, wo die Häuser keine Fassaden haben/ In dieser stinkenden Stadt, in der es nicht mal Wasser gibt / Wo die Leute kämpfen, um aus nichts etwas zu machen / Mein Bosnien, hier könnte es nicht schlechter sein“.

Die Kreativen in Bosnien mischen sich überhaupt auffallend häufig und explizit in die Politik ein. Das konnte man auch beim diesjährigen Filmfestival von Sarajevo sehen, bei dem sich die heimischen Filme oft mit dem Krieg und dessen Bewältigung beschäftigten. So spielt etwa Danis Tanovic’ Tragikomödie „Cirkus Columbia“, mit dem das Festival eröffnete, kurz vor Kriegsausbruch in einem herzegowinischen Dorf. Die Katastrophe bahnt sich bereits an in dieser sonnendurchfluteten Sommeridylle, die Tanovic mit melancholischem Blick in Szene setzt. Der Film gewann souverän den Publikumspreis und Tanovic nutzte die Bühne des renommierten Festivals, um bereits ein bisschen Wahlkampf zu machen. Er schimpfte in Interviews auf nationale Führer, die Bosnien schon seit 20 Jahren in Geiselhaft hielten und bat die Bürger inständig, doch wählen zu gehen.

Im „Becka kafana“ schaut er kurz an unserem Tisch vorbei. Kojovic hat ihm eine Kurznachricht aufs Mobiltelefon geschickt. Doch zu mehr als einem kurzen Hallo ist keine Zeit, er ist auf der Suche nach einer anderen Journalistin. Also erzählt sein Freund Kojovic weiter von Naša Stranka und ihren ersten Erfolgen. Schon wenige Monate nach der Gründung gewannen sie bei den Kommunalwahlen 2008 den Bürgermeisterposten in Bosanski Petrovac, wo der 39-jährige Ermin Hajder sich seither für die Sanierung von Straßen und die Belebung des kulturellen Lebens einsetzt. Kürzlich fand ein großes Theater- und Kunstfest für Kinder statt und im Kulturhaus eröffnete ein Kino. Auch in den Stadtrat von Sarajevo zog Naša Stranka mit zwei Abgeordneten ein, die mit dem sozialdemokratischen Bürgermeister Alija Behmer koalierten. Predrag Kojovik übernahm den Posten des politischen Beraters von Behmer. Doch die Koalition endet schon wenige Monate später im Krach um den Kauf einer Fernsehstation.

Eine andere Verbindung hat hingegen gehalten: In Foma, das auf dem Gebiet der Republika Srpska liegt, arbeitet Naša Stranka mit dem serbischen Bürgermeister Zdravko Krsmanovic zusammen. Es ist die einzige Koalition einer Partei aus der bosnisch-kroatischen Föderation mit einer Partei aus der Republika Srpska. Für Danis Tanovic und Predrag Kojovic beweist diese „historische“ Kooperation, dass Bosnien und Herzegowina als gemeinsamer Staat funktionieren kann.

Also investiert Kojovic weiter viel Geld und Zeit in die Parteiarbeit, auch wenn er darin nicht seine Berufung sieht. Doch es nicht zu tun, käme ihm unverantwortlich vor. Und wenn ihm wieder mal alles zu viel wird, geht er ins Fitness-Center und erinnert sich an das Dante-Zitat, mit dem er auch seine Freunde Tanovic und Mustafic immer wieder zum Weitermachen motiviert: „Die heißesten Plätze in der Hölle sind für diejenigen reserviert, die in moralischen Krisenzeiten ihre Neutralität bewahren.“

Ganz ähnlich denken auch die Mitglieder der Band Dubioza Kolektiv. „Die Situation des Landes war für uns eine große Motivation die Gruppe zu gründen“, sagt Bassist Vedran Mujagic, 31. „Wir können ja nicht so tun, als würde hier nichts passieren.“ Und so rappt und rockt die Gruppe nun schon seit sechs Jahren gegen die Missstände in Bosnien an. Ihre Fans sind vor allem junge Leute, die im oder kurz nach dem Krieg geboren wurden. Drei Viertel von ihnen würden das Land am liebsten verlassen. Doch Dubioza Kolektiv rufen ihnen zu, dass jede Stimme zählt und sie sich selbst für ihre Rechte einsetzen müssen.

Alles-selber-Machen ist auch das Prinzip der Band. Ohne Plattenfirma nahm sie ihre erste CD auf, spielte viel live und hat inzwischen Fans in ganz Ex-Jugoslawien. Ihr letztes Album verschenkten sie auf ihrer Website, die Mujagic entworfen hat. 70 000 Mal wurde das Minialbum heruntergeladen. Alle Musiker können mittlerweile von der Band leben, sie geben dieses Jahr 80 Konzerte, auch in Tschechien, Polen und Deutschland.

Ein Heimspiel haben sie am selben Abend im Haus der Jugend von Sarajevo. Es ist ausverkauft. Etwa 2000 Menschen passen in den runden Saal, der mit modernster Technik und riesigen Bars ausgestattet ist. An den Wänden und sogar vor der Bühne flimmert Werbung. Ein Stockwerk tiefer dominiert noch der kommunistische Betoncharme; es fehlen Bodenplatten und die Toilette ist schrottig. Ein Haus im Übergang – wie das ganze Land.

Es dauert bis halb 4 Uhr morgens bis die Musiker in ihren schwarz-gelben Outfits endlich auf die Bühne springen. Das Publikum hat sich rauchend, trinkend und tanzend die Zeit vertrieben. Ans Warten ist man hier gewöhnt. Als es losgeht, sind alle hellwach. Der ganze Saal hüpft im Takt von Mujagic’ Bass. Jede Zeile wird mitgesungen: „Leere Versprechungen/Sind die beste Reklame/Auf dem Tisch ein Stück Brot/In den Träumen eine Salami.“

Ihr jüngstes Album haben sie „5 do 12“ (Fünf vor zwölf) genannt. „Weil wir Optimisten sind“, sagt Mujagic und lacht, aber eigentlich sei es natürlich längst nach zwölf Uhr für dieses Land.

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