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Ihre Hoffnung heißt Selahattin Demirtas. Viele Kurden setzen auf den Chef der Partei HDP.

© Ilyas Akengin/AFP

Wahlen in der Türkei: Politischer Frühling bei der Opposition

Die Kurdenpartei HDP eröffnet den Wahlkampf – ohne ihren Kandidaten. Denn Selahattin Demirtas sitzt in Haft. Doch die Anhänger sind optimistisch.

Die Fahnen und Wimpel waren da, als die Kurdenpartei HDP am Wochenende in Istanbul ihren Wahlkampf eröffnete, die Slogans, die Musik, die Helfer, die jubelnden Anhänger und die Begeisterung. Nur eines fehlte bei dem Wahlkampfauftakt: der Kandidat.

Denn Selahattin Demirtas, der HDP-Bewerber für das Amt des türkischen Staatspräsidenten, sitzt seit anderthalb Jahren im Gefängnis. Der Stimmung im Amphitheater eines Parks im Istanbuler Stadtteil Besiktas tat seine Abwesenheit keinen Abbruch, im Gegenteil: „Jetzt erst recht“, stand auf den Jacken der Ordner, und bei jeder Erwähnung von Demirtas' Namen brandete lauter Jubel auf.

Die vorgezogenen Neuwahlen am 24.Juni, so zeigte sich bei der Veranstaltung, bringen zumindest eines: Nach fast zwei Jahren von Ausnahmezustand und Repression schafft der Wahlkampf ein Ventil für die aufgestauten Frustrationen vieler oppositioneller Türken und die Gelegenheit, ihrer Meinung endlich wieder Luft zu machen. Der Geist ist aus der Flasche – und ob Recep Tayyip Erdogan ihn wieder hineingestopft bekommt, das ist erstmals seit Jahren plötzlich ungewiss.

Tausende Parteimitglieder sitzen im Gefängnis

Angesichts von Ausnahmezustand, Gleichschaltung der Medien und Kastration der Justiz kämpfen alle Oppositionsparteien in diesem Wahlkampf mit hinter den Rücken gebundenen Armen, doch der HDP sind obendrein noch die Beine gebunden: Tausende ihrer Mitglieder und Funktionäre sitzen im Gefängnis, bis hin zum vormaligen Parteivorsitzenden Demirtas und der Ko-Vorsitzenden Figen Yüksekdag. Erst am Vorabend der Veranstaltung im Park wurden wieder ein Dutzend Führungsmitglieder des Istanbuler Ortsverbandes inhaftiert, darunter der Ko-Vorsitzende von Istanbul.

Die Parteibasis lässt sich davon nicht einschüchtern, das wurde bei der Kundgebung im Park deutlich. Hochrufe brandeten auf, als Bilder des inhaftierten Parteivorsitzenden auf eine Leinwand projiziert wurden: Der Wahlkampf schafft für Demirtas' Anhänger die erste Gelegenheit, die Wut und Trauer über seine Inhaftierung – und die vieler anderer HDP-Anhänger – öffentlich zu äußern.

"Jetzt erst recht!"

„Die Basis ist begeistert“, sagte Mithat Sancar, einer der HDP-Abgeordneten, die noch auf freiem Fuß sind, dem Tagesspiegel am Rande der Veranstaltung. „Demirtas ist der Kandidat, den die Basis wollte.“ Eineinhalb Jahre stille Wut über die Inhaftierung des charismatischen Politikers, der die Kurdenpartei mit Geist, Charme und Witz in der Türkei salonfähig gemacht und der Regierungspartei AKP vor drei Jahren vorübergehend die Parlamentsmehrheit entrissen hatte, entluden sich beim Wahlkampfauftakt in Sprechchören mit seinem Namen, die immer wieder aufbrandeten. „Jetzt erst recht“, rief ein Redner nach dem anderen auf Türkisch und auf Kurdisch ins Mikrofon, und die Menge skandierte: „De-mir-tas!“

Fast zeitgleich gelang der Partei der Coup, den inhaftierten Kandidaten zumindest indirekt zu Wort kommen zu lassen. Auf Demirtas' Twitter-Konto erschien eine Serie von Tweets mit Wahlversprechen, die eindeutig seine Handschrift trugen. „Beißt noch 50 Tage lang die Zähne zusammen“, hieß es da etwa an die Schüler und Studenten gerichtet, die sich mit dem zerrütteten Bildungssystem herumschlagen müssen; „diese 50 Tage vergehen auch noch“, an die zu Unrecht inhaftierten Menschen im Land; und „noch 50 Tage Geduld“ an die geknebelte Presse. „Wartet nicht erst die Wahlen ab“, ließ Demirtas den Türken aus dem Gefängnis ausrichten: „Umarmt euch schon jetzt brüderlich.“

Die Wähler mobilisieren

HDP-Helfer Serhat sagte am Rande der Veranstaltung: „Wir wissen schon, wie schwer dieser Wahlkampf wird. Aber wir nehmen das in Kauf, denn Demirtas ist es, den wir uns wünschen.“ Dass der Kandidat im Gefängnis sitze, schrecke ihn keineswegs ab, sagte ein anderer Kundgebungsteilnehmer. Demirtas' unrechte Inhaftierung sei ihm im Gegenteil doppelter Ansporn, ihn zu wählen.

Es werde schwer, sagte auch eine junge Frau bei der Demonstration. Wenn alles mit rechten Dingen zugehe, müsse das Wahlamt eigentlich dem Antrag der HDP stattgeben, ihren Vorsitzenden für die Dauer des Wahlkampfes freizulassen. Und wenn die Behörde nicht zustimme? „Dann erst recht“, antwortet die junge Frau mit blitzenden Augen.

Dass Demirtas, der bei der Präsidentenwahl im Jahr 2014 auf rund zehn Prozent kam, weniger Stimmen als Erdogan und als andere Oppositionsbewerber gewinnen wird, ist allen im Park klar. Doch darum geht es der HDP auch nicht.

Ihr kommt es darauf an, am 24. Juni möglichst viele ihrer Wähler an die Urnen zu bringen, um der Partei eine starke Präsenz im Parlament und eine gute Ausgangsposition für die mögliche zweite Runde der Präsidentschaftswahl am 8.Juli zu verschaffen. Zehn Prozent – das sind rund fünf Millionen Wähler. Mit diesem Pfund könnte die HDP wuchern, um dem Oppositionskandidaten in der Stichwahl im Gegenzug für die Unterstützung gegen Erdogan politische Zugeständnisse abzuringen.

Kastanienkerzen blühen über der improvisierten Bühne im Park in Istanbul, die HDP-Wimpel wiegen sich in der lauen Brise vom Bosporus. Die Menschen im Park atmen tief durch nach dem langen Winter. Zumindest für ein paar Stunden riecht es nach Frühling in der Türkei.

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