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In den ersten Augusttagen will der designierte Präsidentschaftskandidat der Demokraten, Joe Biden, verkünden, wer seine "running mate" wird, die Kandidatin für die Vizepräsidentschaft. Bislang steht nur fest.

© Matt Rourke/AP/dpa

Wahlkampf in den USA: Warum die Vizepräsidentschaft so wichtig ist wie nie

In diesen Tagen will Joe Biden seine Kandidatin für die Vizepräsidentschaft vorstellen. Der Historiker Manfred Berg erklärt im Interview die Bedeutung des "VP".

Von Anna Sauerbrey

Manfred Berg ist Curt-Engelhorn-Stiftungsprofessor für Amerikanische Geschichte am Historischen Seminar der Universität Heidelberg​​.

Bis zum 3. August will Joe Biden seinen „running mate“ vorstellen, seine Kandidatin für die Vizepräsidentschaft. Eine Frau soll es werden, so viel wissen wir. Die Zeitschrift „The Atlantic“ schrieb kürzlich, diese Frau könnte die wichtigste Vizepräsidentin in der Geschichte der Vereinigten Staaten werden. Ist das übertrieben?

Das kann schon so sein. Es ist sehr wahrscheinlich, dass es eine Afroamerikanerin wird – und das wäre zum jetzigen Zeitpunkt ein sehr starkes Zeichen. Außerdem ist zu erwarten, dass diese Person dann auch in den Startlöchern für eine eigene Präsidentschaftskandidatur stehen wird, entweder in vier Jahren oder in acht Jahren – sofern Biden gewinnt.

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In der Verfassung hat das Amt der Vizepräsidentin eigentlich keinen besonderen Rang – solange der Präsident lebt und gesund ist. Was darf er oder sie überhaupt?

Die in der Verfassung festgelegten Kompetenzen sind sehr überschaubar. Eigentlich führt der Vizepräsident nur den Vorsitz des Senats und kann in Abstimmungen, die unentschieden ausgehen, das tiebreaker vote abgeben, die entscheidende Stimme. Ansonsten hat er repräsentative Funktionen. Das Amt ist deshalb oft in sehr despektierlicher Weise beschrieben worden – auch von einigen Vizepräsidenten selbst. Manche meinten, die einzige Aufgabe des Vizepräsidenten sei es, sich über den Gesundheitszustand des Präsidenten auf dem Laufenden zu halten. Doch von den amerikanischen 44 Präsidenten vor Donald Trump sind immerhin 13 zuvor Vizepräsidenten gewesen. Das Amt ist also keine schlechte Ausgangsposition.

Wie hat sich das Amt des Vizepräsidenten über die Zeit verändert?

In der Frühphase der amerikanischen Geschichte war der Vizepräsident einfach derjenige, der vom Electoral College, von den Wahlmännern, die zweitmeisten Stimmen erhielt. Im späten 18. Jahrhundert gab es die Vorstellung noch nicht, dass es so etwas wie konkurrierende politische Parteien geben kann. Das Verfahren führte dann zum Beispiel dazu, dass Thomas Jefferson der Vizepräsident von John Adams wurden, obwohl die beiden sich hassten und unterschiedlichen politischen Lagern angehörten.

Dann wäre ja heute Hillary Clinton Trumps Vizepräsidentin!

Ein reizvoller Gedanke für alle, die das Chaos lieben. Mit dem Trend zur Parteibildung hat man das Verfahren dann geändert, seit 1804 wurde getrennt über den Präsidenten und den Vizepräsidenten abgestimmt. Dass heute Präsidentschaftskandidaten  ihre Wahl für das Amt des Vize schon vor den Parteitagen benennen, hat sich erst eingebürgert, seit die Vorwahlen die Parteitage auf die Funktion von „Krönungsmessen“ reduziert haben, also besonders seit den 1970er Jahren.

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Hat sich auch die politische Bedeutung des Amtes verändert?

Der Zweite Weltkrieg wird als Zäsur gesehen. Die Exekutive hat seither an Macht und Kompetenz gewonnen. Diese Periode wird auch „Imperial Presidency“ genannt: Beginnend mit Roosevelt haben die Präsidenten ihr Personal ausgebaut, Beratungsgremien geschaffen und Behörden, die ihnen direkt unterstellt sind. So  sind die Präsidenten unabhängiger und schlagkräftiger geworden. Mit dem Bedeutungszuwachs des Weißen Hauses hat auch die Sichtbarkeit und Bedeutung des Vizepräsidenten zugenommen. Die Amtsinhaber werden meist als mögliche Präsidentschaftskandidaten gesehen.

Wer waren aus Ihrer Sicht bedeutende Vizepräsidenten?

Aus der jüngeren Geschichte fällt mir vor allem Al Gore ein. Al Gore und Bill Clinton waren 1992 ein sehr starkes Team, weil sie beide einen Generationswechsel verkörperten, ein neues, modernes Amerika. Gore hat als Vizepräsident auch eigene politische Initiativen ergriffen, im Bereich des Umweltschutzes und der IT-Technik, das, was wir heute Digitalisierung nennen. Er hatte großen politischen Einfluss. Aus der jüngeren Zeit ist sicher auch Dick Cheney zu nennen, der Vizepräsident von George W. Bush, der als graue Eminenz dieser Regierung galt. Es gab damals einen Witz: „Was passiert, wenn Dick Cheney stirbt? Dann wird George Bush Präsident.“

Was sind die Bedingungen, unter denen Vizepräsidenten bedeutsam werden? Bei Dick Cheney etwa gilt ja landläufig die relative Schwäche von George W. Bush als Quelle seiner Macht…

Man muss sich vor Karikaturen hüten. Dieses Bild ist zuletzt 2018 in dem Film über Cheney gezeichnet worden, in „Vice“, und so etwas kann natürlich Geschichtsbilder prägen. Ich denke, die Präsidenten der jüngeren Geschichte waren sicher nicht Marionetten ihrer Vizepräsidenten. Die Schwäche des Amtes ist eigentlich festgeschrieben, aber es kommt darauf an, was die einzelnen Personen machen.

Manche Vizepräsidenten haben sich bei ihrer Nominierung eine Reihe von Rechten ausbedungen, nicht zuletzt Biden als Vize von Obama: Es gab ein fest terminiertes gemeinsames Mittagessen in der Woche und Biden war immer bei den allmorgendlichen sicherheitspolitischen Lageberichten anwesend. Oft war er „the last man in the room“ – er hatte nach einem Treffen jeweils noch ein paar Minuten mit dem Präsidenten allein. Ist das nicht ein verfassungsrechtliches Problem, dass diese Rolle so flexibel verhandelbar ist, je nach Persönlichkeit?

Das würde ich nicht sagen. Wenn die Verfassung über ein Amt nicht viel sagt, besteht eben ein politischer Handlungsspielraum. Das ist gewollt und darüber entscheiden dann die Wähler. Die enge Zusammenarbeit von Clinton und Gore kam bei den Wählern ja offenbar gut an – sie wurden als Team wiedergewählt. Und auch bei Biden würde ich sagen, dass es für Obama sehr wichtig war und von den klassischen demokratischen Wählern auch sehr geschätzt wurde, dass der Präsident diesen erfahrenen und bodenständigen Politiker an seiner Seite hatte. Die verfassungsrechtliche Problematik, die mit dem Vizepräsidenten verbunden ist, liegt eher im Zusatzartikel 25, der erst seit 1967 gilt.

Inwiefern?

Der Artikel 25 sieht vor, dass der Vizepräsident mit Zustimmung des Kabinetts den Präsidenten für amtsunfähig erklären kann. Geschieht das gegen den Willen des Präsidenten, muss zwar der Kongress darüber abstimmen – der aber könnte ja mehrheitlich mit dem gegnerischen Lager besetzt sein. Der Vizepräsident erhält dadurch gewissermaßen die Möglichkeit, darauf hinzuwirken, den Wählerwillen auszuhebeln. Es wird darüber diskutiert, ob darin eine Gefahr liegen könnte.

Lyndon B. Johnson schwört nach der Ermordung von John F. Kennedy an Board der Air Force One auf dem Flug von Dallas nach Washington den Amtseid. Rechts im Bild: Jackie Kennedy.
Lyndon B. Johnson schwört nach der Ermordung von John F. Kennedy an Board der Air Force One auf dem Flug von Dallas nach Washington den Amtseid. Rechts im Bild: Jackie Kennedy.

© Cecil William Stoughton

Und er würde im Fall der Amtsunfähigkeit auch Präsident werden.

Ja. Er kann sogar temporär die Amtsgeschäfte übernehmen. Das war etwa bei George W. Bush der Fall. Er ließ sich zwei Mal operieren und für die Zeit, in der er unter Narkose war, hat er ausdrücklich bestimmt, dass Cheney die Amtsgeschäfte führen sollte. Im Falle des Todes übernimmt der Vize ohnehin – und zwar sofort. Der letzte Fall war Lyndon B. Johnson, die Szene ist ja sehr berühmt, es gibt eine Fotografie (siehe oben): Nur zwei Stunden nach Kennedys Ermordung 1963, noch an Board der Air Force One von Dallas nach Washington, hat er den Amtseid geschworen. Jackie Kennedy steht neben ihm, noch in der Kleidung, die sie während des Attentats getragen hat. Wegen der Bedeutung des Präsidentenamtes gibt es so eine Art horror vacui, eine Angst vor der Leerstelle.

Eine andere These, warum das Amt des Vizepräsidenten bedeutsamer geworden ist, ist, dass die Fülle der Themen, um die sich ein Präsident zu kümmern hat, enorm gewachsen ist. Kann man, um es zugespitzt zu formulieren, so ein Land nur noch als Team führen?

Das würde ich unbedingt bejahen! Aber die Vorstellung vom amerikanischen Präsidenten als mächtigster Mann der Welt ist ohnehin in vieler Hinsicht irreführend. Wir haben sie im Kalten Krieg verinnerlicht, als der Präsident als derjenige gesehen wurde, der einen möglichen Atomkrieg auslösen konnte, als der eine Mann, der über Krieg und Frieden entscheidet. Tatsächlich ist das politische System der USA sehr fragmentiert und hat eine eingebaute Tendenz zur Selbstblockade. Es kommt daher tatsächlich oft vielmehr auf moderierende und auch kollektive politische Führung an – besonders da, wo die Verfassung dem Präsidenten gar keine Kompetenzen zuschreibt. Im Fall von Obama wurde etwa erwartet, dass er etwas gegen die Polizeigewalt gegen Afroamerikaner tut und er hat es versucht. Gerade deshalb würde ich es in der jetzigen Situation begrüßen, wenn das Amt des Vizepräsidenten gestärkt würde und mit einer Afroamerikanerin besetzt wäre, die dann sehr glaubhaft eine politische Führungsrolle im Kampf gegen Rassismus übernehmen könnte.

Wird von vielen Medien als Top-Kandidatin gehandelt: Kamala Harris, Senatorin für Kalifornien, die im Vorwahlkampf der Demokraten um die Präsidentschaftskandidatur zunächst auch selbst angetreten war.
Wird von vielen Medien als Top-Kandidatin gehandelt: Kamala Harris, Senatorin für Kalifornien, die im Vorwahlkampf der Demokraten um die Präsidentschaftskandidatur zunächst auch selbst angetreten war.

© Scott Olson/Getty Images/AFP

Die Kandidatin für die Vizepräsidentschaft wird dieses mal als „transition candidate“ gesehen, als eine Person, die für die sukzessive Machtübergabe an jüngere, progressivere Demokraten steht. Sehen Sie das auch so?

Mit Joe Biden ist jemand Präsidentschaftskandidat geworden, der eigentlich ein Mann von gestern ist. Das muss ausbalanciert werden. Biden muss sowohl personelle als auch politische Konzessionen an den linken Flügel machen und an die für die Demokraten sehr bedeutende afroamerikanische Wählerschaft machen: Afroamerikaner machen etwa 13 Prozent der Bevölkerung aus, unter den Wählern der Demokraten ist es etwa doppelt so viel. Die Nominierung setzt ein Zeichen für die Zukunft. Aber es sind auch Risiken damit verbunden. Trump hat nur eine Chance, diese Wahl zu gewinnen: Er muss auf hemmungslose Polarisierung setzen. Er wird die Kulturkriege und die Rassenspaltung in den Vordergrund drängen.Seine Botschaft lautet: Sleepy Joe ist eine Marionette der radikalen Linken, die Amerika zum Sozialismus führen will und seiner stolzen Geschichte berauben. Wenn ihr Biden wählt, wählt ihr eine schwarze Radikale. Damit könnte er womöglich die vielen Republikaner halten, die Trumps Umgang mit der Coronakrise kritisch sehen.

Biden ist 77 Jahre alt. Deshalb wird sogar darüber spekuliert, ob es eine Art „Stabübergabe“ an die Vizepräsidentin zur Mitte seiner Amtszeit geben könnte…

Daran glaube ich nicht. Das wäre absolut systemwidrig. Das einzige, was sein könnte, und dafür gibt es viele historische Beispiele, ist, dass er auf eine Widerwahl bewusst verzichtet. Im 19. Jahrhundert war das eher die Regel. Dann, nach Roosevelts langer Präsidentschaft, hat man die Begrenzung auf zwei Amtszeiten in der Verfassung verankert und daraus wurde dann wiederum fast die Erwartung, dass jemand immer zwei Mal antritt. Es wäre zwar unklug, wenn Biden eine zweite Amtszeit von vornherein ausschließen würde, er wäre dann eine „lahme Ente“; aber angesichts seines Alters – er wäre am Ende einer zweiten Amtszeit 86 – ist es nicht unwahrscheinlich, dass es bei einerbleibt.

Was ist ihr Tipp, wer wird sein „running mate“?

Meine persönliche Erwartung ist, dass es Kamala Harris wird, die Senatorin aus Kalifornien.

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