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Wahlkampf: Über 80 Parteien wollen Tunesien regieren

Am 23. Oktober finden in Tunesien Wahlen zur verfassungsgebenden Versammlung statt. Es geht um Arbeitslosigkeit, Religionsfragen und Wiedergutmachungen für die Opfer des Regimes. Viele Tunesier wissen gar nicht, um was es überhaupt geht.

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Am 23. Oktober finden in Tunesien die Wahlen zur verfassungsgebenden Versammlung statt. Somit wird es das erste Land sein, welches nach dem Arabischen Frühling freie Wahlen abhält. „Wir sind von einem Extrem ins andere geraten. Unter Ben Ali durften die Leute überhaupt nicht sprechen, jetzt hören sie gar nicht mehr auf zu Diskutieren“, sagt die Studentin Nesrine und lacht. Vor allem ist sie stolz auf die Vorreiterrolle, die Tunesien im Arabischen Frühling eingenommen hat: „So viele Jahre lang konnte Tunesien in der Welt nur als Diktatur wahrgenommen werden“, sagt sie „Jetzt blickt man auf uns, weil wir uns befreit haben.

Diskutiert wird tatsächlich seit dem offiziellen Beginn des Wahlkampfes Anfang Oktober überall und ununterbrochen. Ein Regisseur organisiert kurzerhand Rededuelle zwischen Spitzenkandidaten in seinem Theater. Alle großen Räumlichkeiten sind bis auf Weiteres für Parteiveranstaltungen ausgebucht. In den Cafés drücken sich die Menschen gegenseitig Parteiprogramme in die Hand, um hinterher lautstark darüber zu debattieren.

Die Parteienlandschaft ist nach der Revolution unüberschaubar geworden. Stand Ben Alis Konstitutionelle Demokratische Sammlung (RCD) seit 1987 einsam an der Spitze neben ein paar klein gehaltenen Oppositionsparteien, so wurden seit seiner Flucht am 14. Januar mehr als hundert Parteien neu gegründet. 81 davon sind nun zur Wahl zugelassen. Mit ihnen konkurrieren einige hundert unabhängige Kandidaten um die 217 Sitze in der verfassungsgebenden Versammlung.

 

„Politik ohne Religion ist Unsinn!“

In allen Umfragen liegt bislang die moderat islamistische Ennahda vorne. Sie nennt sich nicht umsonst „Bewegung“ anstatt „Partei“. Täglich treten ihr neue Mitglieder bei und organisieren selbstständig lokale Veranstaltungen. Selbst in kleinen Dörfern finden sich provisorisch eingerichtete Wahlkampfbüros. „Wir haben unsere Zentrale hier selber aufgebaut“, erklären uns einige Parteimitglieder in Mdhila, einem kleinen Dorf unweit von Gafsa, der Hauptstadt des Phosphatminengebiets. Hier hatten 2008, noch lange vor der Revolution, die ersten Aufstände von Minenarbeitern und Arbeitslosen stattgefunden. Sie wurden damals blutig von den Sicherheitskräften niedergeschlagen. „Viele von uns sind ins Gefängnis gewandert, weil wir der korrupten Politik Ben Alis widersprochen haben“, erzählen einige der alten Männer in dem kleinen Büro. Vor allem gegen die widrigen Arbeitsbedingungen und die schlechten Renten habe man sich gewehrt. „Nun wirft man uns vor, wir würden Stimmen kaufen. Dabei machen unsere Mitglieder nur weiterhin dieselbe Gemeinschaftsarbeit, die wir die ganzen letzten Jahre getan haben.“ Familien helfen, die arbeitslos sind beispielsweise, oder die Betreuung Angehöriger von Gefängnisinsassen.

Der Gründer der Bewegung, Rashid Al-Ghannushi wird von vielen Tunesiern hoch geschätzt. Nachdem er in den achtziger Jahren aufgrund seiner Kritik am Ein-Parteien-System und einer sozial unausgeglichenen Politik Ben Alis zu längeren Haftstrafen verurteilt worden war, emigrierte er nach London und verbrachte mehr als zwanzig Jahre im Exil. Ein persönlicher Freund von ihm ist der türkische Premier Recep Tayyip Erdogan. Er gilt dadurch nicht nur den streng gläubigen Muslimen im Land als vertrauenswürdige Alternative zu den anderen großen Parteien. Das Parteiprogramm verbindet einen Kurs des sozialen Ausgleichs mit Marktwirtschaft und favorisiert eine Parlamentarische Demokratie als künftiges Regierungssystem. Dabei richte man sich an den Werten des Korans aus, so Ali Chortani, einer der Gründungsmitglieder der lokalen Parteiorganisation in Gafsa. Zur Trennung von Religion und Staat hat er eine klare Meinung: „Politik ohne Religion ist Unsinn.“

Frauen fürchten um ihre Freiheit. Lesen Sie weiter auf Seite 2.

Wir sind keine radikalen Islamisten

Der Spitzenkandidat der Partei für die Region, Gafsa Mohamed Mohsen Soudani wehrt sich indes gegen die Kritik der anderen Parteien, Ennahda befürworte einen radikalislamistischen Staat. Man wolle eine moderne pluralistische Demokratie aufbauen. Auf die Frage, wie er die Transparenz der neuen Regierung garantieren wolle, hat er einen einfachen Vorschlag: „Von mir aus sollen alle Sitzungen der verfassungsgebenden Versammlung live übertragen werden. Außerdem könnten Journalisten unbeschränkten Zugang zu den wichtigen Gremien erhalten.“

Einer seiner Mitarbeiter erklärt: „Wir wissen, was es heißt, für die eigene Meinung ins Gefängnis zu gehen. Das wollen wir für niemanden mehr.“

Tatsächlich ist die Stärke der Bewegung eng mit den früheren Repressionen gegenüber religiösen Muslimen unter Ben Ali verbunden. Die Polizei hatte beispielsweise Muslima mit Kopftuch häufig auf offener Straße diskriminiert, Studentinnen wurde teils das Kopftuch heruntergerissen. Mit dem Ergebnis, dass sich einige gar nicht mehr in die Universität trauten.

„Für religiöse Angelegenheiten brauchen wir keine Partei!“

Dem Erfolg von Ennahda stehen andere sehr skeptisch gegenüber. So beispielsweise Maroua, eine Sportstudentin aus Sfax, dem wirtschaftlichen Zentrum Tunesiens: „So schlimm die Diktatur unter Ben Ali auch war, trotzdem hat er uns Frauen viele Rechte gegeben. Ich habe Angst davor, dass die Islamisten sie uns wieder nehmen wollen.“ Sie ist daher glühende Anhängerin des Kongress für die Republik (CPR) und deren Spitzenkandidaten Moncef Marzouki. Als langjähriger Vorsitzender der tunesischen Menschenrechtsliga und verschiedenen Nichtregierungsorganisationen hat auch er Ben Ali über Jahre hinweg scharf kritisiert, woraufhin er 2002 nach Frankreich emigrieren musste. Seine Partei setzt sich für eine strikte Trennung von Religion und Staat ein. „Für religiöse Angelegenheiten brauchen wir keine Partei. Dinge wie Alkohol oder das Kopftuch sind Privatsache. Wir werden beides niemals bekämpfen“, so Lamin Abdul Rahim, Generalsekretär der Partei für die Region Gafsa. Glaubwürdigkeit bei der Bevölkerung gewinnt die Partei zudem dadurch, dass sie keine Spenden von Großunternehmern annimmt, eine Kritik, die an Ennahda und anderen Parteien mehrfach geübt wurde.

Um neue Arbeitsplätze zu schaffen, fährt die Mitte-Links-Partei ein zweigleisiges Programm: Einerseits sollen weitgehende Steuersenkungen ausländische Investoren anlocken und Privatinitiativen stärken. Gleichzeitig sollen jedoch, so Rahim, „alle vitalen Sektoren, wie Wasser, Strom, Transport und die Phosphatminen entweder in staatlicher Hand bleiben oder, wo privatisiert wurde, wieder verstaatlicht werden.“

Mit bis zu 65 Prozent Arbeitslosigkeit und schlechter Infrastruktur wird es eine der größten Herausforderungen der zukünftigen Regierung sein, neue Lösungsansätze für die Minenregion zu finden. Selbst die wenigen, die hier einen Arbeitsplatz bei der staatlichen Minengesellschaft haben, sehen sich gesundheitsbelastenden Arbeitsbedingungen und anschließend einer Rente weit unter dem Existenzminimum gegenüber.

In Umfragen ebenfalls vorne liegen bisher die sozialdemokratische PDP, mit dem ehemals Oppositionellen Ahmed Néjib Chebbi an ihrer Spitze, die menschenrechtsbasierte Partei Ettakatol, sowie die Liberalen AFEK Tounes und die Kommunistische Arbeiterpartei POCT. Ettakatol machte vor Kurzem dadurch auf sich aufmerksam, dass sie ihre gesamte Finanzierung inklusive aller Spenden und dem Wahlkampfbudget offen legte. AFEK Tounes sieht sich eigenen Angaben zufolge als eine Partei aus „Technokraten und Anwälten“ und verspricht eine „fundierte und professionelle Politik mit weit reichendem Fachwissen.“ Womit sie aber der Kritik ausgesetzt ist, mit dem ehemaligen Regime zu eng zusammengearbeitet zu haben. Auf die Frage, was sie für die Aufarbeitung der Diktatur-Vergangenheit tun wolle, antwortet Abdul Majid Zahaf, Nummer eins der Liste von Gafsa dementsprechend ausweichend und befürwortet eine rasche Wiedereingliederung, beispielsweise der Polizeiführungen in die Gesellschaft.

Lesen Sie auf der nächsten Seite, warum viele Tunesier den Parteien nicht trauen.

„Ich traue keinen Parteien mehr“

Neben den 700.000 Arbeitslosen und der Religionsfrage, sind Regierungstransparenz, der Umgang mit den ehemaligen RCD-Mitgliedern und Wiedergutmachung für Opfer des Regimes die wesentlichen Themen des Wahlkampfes. Das einige Parteien ehemalige Angehörige des Regierungsapparates in ihren Reihen haben, ist für viele Tunesier ein absolutes Ausschlusskriterium. Den Satz „Ich traue keinen Parteien mehr, ich werde einen unabhängigen Kandidaten wählen“ hört man daher oft, wenn man die Leute auf der Straße nach ihrer Wahlabsicht fragt.

Wählen, aber was?

Erschreckend ist die Tatsache, dass ein Teil der Bevölkerung nicht weiß, was denn überhaupt gewählt wird. So steht zwar fest, dass es eine verfassungsgebende Versammlung geben wird, vielen ist indes nicht klar, was daraufhin mit der bisherigen Übergangsregierung unter Essebsi passieren wird. „Ab Tag der Wahlen ist die Übergangsregierung rechtlich nicht mehr legitimiert. Als einziges demokratisch gewähltes Organ wird die verfassungsgebende Versammlung eine neue Regierung bilden“, erklärt Hedi Abidi, einer der Gründer der Wahlbeobachtungsorganisation iWatch, die 100 Studenten zu freiwilligen Wahlbeobachtern schult. „Die mangelnde Informationspolitik Essebsis ist einer der Hauptursachen, warum viele denken, die Übergangsregierung bleibe im Amt. Er hat seinen eigenen Wunsch, nach den Wahlen als Präsident zu kandidieren kaum von sachlichen Informationen zur Wahl getrennt“, so Abidi weiter. Wie lange die verfassungsgebende Versammlung brauchen darf um eine Verfassung und damit Neuwahlen des Parlaments zu erreichen, ist ebenfalls umstritten.

Ob es vor und nach den Wahlen ruhig bleibt oder die Revolution weiter geht, wird wesentlich von deren Ablauf abhängen. Es gibt eine relativ große Gruppe an Tunesiern, die sich von den Parteien gar nicht vertreten sieht. Darüber hinaus beschuldigen sich die konkurrierenden Parteien unentwegt gegenseitig, sich nicht an das Wahlkampfgesetz zu halten oder finanzielle Unterstützung aus dem Ausland zu erhalten, was ebenfalls verboten ist. Wie die unterschiedlichen Gruppen im Falle eines Sieges ihrer jeweiligen Gegner reagieren werden, vermag bisher niemand vorauszusagen.

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