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Stimmabgabe in einem Wahllokal in Berlin (Archivbild)

© dpa/Kay Nietfeld

Wahlrecht und Staatsbürgerschaft: Ich musste mir meine Stimme erst verdienen

Viele Einwanderer und deren Kinder dürfen nicht wählen, obwohl sie schon lange hier leben. Ihnen fehlt ein deutscher Pass. Ich war eine von ihnen.

2017, kurz vor den Bundestagswahlen war ich auf den Straßen unterwegs, mit einem Mikrofon in der Hand und einer Frage auf den Lippen: „Gehen Sie wählen?” Ich befragte für ein Online Magazin vor allem migrantisch markierte Menschen. Wie dachten sie über die anstehenden Wahlen, fühlten sie sich von der Politik abgeholt? Eine Interviewpartnerin – eine ältere Frau – fragte mich im Laufe des Gesprächs auf Türkisch, ob ich denn wählen gehe.

Ich lachte und lenkte ab. Es ging ja nicht um mich. Die korrekte Antwort wäre gewesen: Nein. Weil ich nicht durfte. Ich berichtete damals zwar über die Wahlen, war aber nicht wahlberechtigt. Ich hatte nicht die deutsche Staatsbürgerschaft. Ich bin in Deutschland geboren, aufgewachsen, zur Schule und Uni gegangen und zahle hier Steuern. Doch die zwingende Voraussetzung, um an der Wahl teilzunehmen ist die Staatsangehörigkeit.

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Etwa zehn Millionen Volljährige dürfen den Angaben des Statistischen Bundesamtes zufolge nicht wählen, obwohl sie in Deutschland leben. Insgesamt machen sie etwa 14 Prozent der Gesamtbevölkerung aus. Das finden viele unfair und handeln. Sanaz Azimipour und Azadeh Atai gehören zu den Initiatorinnen der Kampagne „Nicht ohne uns 14 Prozent” und fordern ein Bundestagswahlrecht für alle in Deutschland lebenden Menschen.

Das Wahlrecht müsse ein demokratisches Grundrecht und kein Privileg sein, sagen sie. In anderen Staaten sei dieses „Selbstbestimmungsrecht” bereits Realität – beispielsweise in Schottland und Wales. Bisher haben etwa 5500 Menschen die Kampagne unterzeichnet.

Es braucht manchmal Zeit zu verstehen, was keine Stimme zu haben überhaupt bedeutet

Ja, eine politische Stimme zu haben, ist ein Privileg. Sich als ein mündiges Individuum mit politischer Entscheidungsmacht zu begreifen, keine Selbstverständlichkeit. Ich erinnere mich, wie ich meiner Großmutter nach der Schule am Küchentisch das Lesen beigebracht habe, während ich selbst Hausaufgaben gemacht und darauf gewartet habe, dass meine Mutter von der Arbeit zurückkehrt und mich abholt.

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Ich hatte einen anderen Zugang zu Politik als beispielsweise ein Kind, das nach der Schule zum Klavierunterricht gefahren wird. Dieses Kind kann sich viel eher als Individuum begreifen und politische Forderungen und Meinungen formulieren. Ich hingegen musste vor allem im Kollektiv funktionieren, ein Raum für politische Entfaltung braucht Ressourcen, die ich nicht hatte. 

Als Jugendliche hätte ich theoretisch meine türkische Staatsbürgerschaft abgeben und Deutsche werden können. Ich war aber eher damit beschäftigt, in Cafés zu arbeiten und Geld zu verdienen. Mit Anfang, Mitte Zwanzig dann, mitten im Studium, verstand ich, dass ich nicht wählen konnte, obwohl ich wollte. Das Studium eröffnete neue Möglichkeiten und Zugänge zur politischen Bildung für mich.

Zugänge, die aufgrund meiner sozialen Herkunft strukturell nicht in meinem bisherigen Radius waren. Doch dann war da schon die nächste Hürde: Ich durfte per Gesetz einfach nicht wählen. Ich entschied mich dann, die Einbürgerung zu beantragen. Dass ich meine türkische Staatsangehörigkeit abgeben musste, störte mich persönlich nicht. Ein Papier löst keine Emotionen in mir aus. 

Eine politische Stimme zu haben fühlt sich fremder an als politisiert zu werden

Doch wie kann man diese unaufgeregte Haltung von meiner Großmutter erwarten, die aufgrund gescheiterter Integrationspolitik hierzulande und gescheiterter Bildungspolitik im Herkunftsland sich als stimmlose Gästin sah? Sie fühlte sich nie ganz hier angekommen, wollte zur Rente wieder in ihr Heimatland und die Abgabe der türkischen Staatsangehörigkeit hätte vieles erschwert. Gewählt hätte sie trotzdem, wenn es ihr gestattet gewesen wäre. Immerhin lebte sie Jahrzehnte lang hier. 

Als ich damals also eine Straßenumfrage machte, steckte ich mitten im Einbürgerungsprozess. Mehr als zwei Jahre hat das gedauert. Etliche Nachweise, unzählige Fragen, wiederholte Besuche bei der „Ausländerbehörde“ und auch eine Menge Geld, Zeit und Kraft später, wurde ich dann Deutsche auf dem Papier – kurz nach den Bundestagswahlen im Jahr 2017. 

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Als Erstwählerin habe ich das Gefühl, dass ich es mir regelrecht verdienen musste, wählen und mitbestimmen zu können. Gleichzeitig wird über Menschen mit Migrationsgeschichte und/oder Arbeiterkinder bei politischen Debatten sehr aufgeladen diskutiert. Fanden Menschen wie ich oder meine Großmutter in der Politik Erwähnung, wurden wir problematisiert.

Unsere Identitäten waren oft Gegenstand politischer Debatten. Schlagwörter wie Parallelgesellschaft oder Integrationsverweigerer haben mich Jahre begleitet. Jetzt eine politische Stimme zu haben fühlt sich fremder an als politisiert zu werden. Nicht meine Familie hat meinen Weg zur politischen Teilhabe erschwert, sondern die träge soziale Durchlässigkeit im politischen System.

Esra Ayari ist Social Editor beim Tagesspiegel.

Esra Ayari

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