zum Hauptinhalt
Aufgabe eines Wahlrechts: Wie füllt man die Sitze im Bundestag?

© Michael Kappeler/dpa

Wahlrechtsreform im Bundestag: Die Koalition sollte vor Scham erröten bei diesem Gesetz

Das Wahlgesetz der Groko taugt nichts. Eine Verfassungsklage kann die dringend nötige Klärung bringen: Was ist personalisierte Verhältniswahl? Ein Kommentar

Ein Kommentar von Albert Funk

Es ist keine Wahlrechtsreform, die Union und SPD an diesem Donnerstag im Bundestag auf den Weg bringen. Es ist noch nicht einmal ein Reförmchen. Das neue Wahlgesetz ist das schlechte Produkt schlechter Produzenten. Da können die Vertreter der Koalition noch so sehr hervorheben, dass es zumindest ein bisschen weniger Abgeordnete im künftigen Parlament sein werden als nach der bisherigen Regelung, die ja offenkundig untauglich ist.

Wer immer in der Debatte für CDU, CSU und SPD ans Rednerpult tritt, es sollte ihnen die Schamesröte ins Gesicht steigen. Vielleicht reden sie ja mit Maske.

Hinter diesem Gesetz steht nämlich nichts anderes als eine durchaus riskante Wette, dass es schon nicht so schlimm kommen wird, wie man befürchten muss. Dass es eben doch weniger Abgeordnete sein werden als die 709 aktuell, bei einer Normalgröße von 598 Sitzen. Dass die beiden Dämpfungsmaßnahmen, die eingebaut wurden, vielleicht eine Zahl unter 700 ergeben. Dass man dann der Bevölkerung suggerieren kann, man habe geliefert.

Es kann eine weitere Aufblähung des Bundestags geben

Doch beide Maßnahmen - Verrechnung von Überhängen mit Landeslistenmandaten und drei Überhänge ohne Ausgleich – sind mickrig in ihrer Wirkung und möglicherweise verfassungswidrig. Die Wahrscheinlichkeit, dass der nächste Bundestag größer sein wird als der jetzige, ist aus heutiger Sicht höher als eine Verringerung der Mandatszahl. Man hätte erwarten dürfen, dass zumindest eine solche Entwicklung ausgeschlossen wird. Aber nicht einmal das hat die Koalition hinbekommen. Wie heißt es so schön: Setzen, sechs.

[Wenn Sie aktuelle Nachrichten aus Berlin, Deutschland und der Welt live auf Ihr Handy haben wollen, empfehlen wir Ihnen unsere App, die Sie hier für Apple- und Android-Geräte herunterladen können.]

So stellt sich die Frage, und die Opposition denkt darüber nach, ob eine zügige Klage in Karlsruhe angesichts des Desasters angesagt wäre. Ansatzpunkte wären zum einen die mangelhafte Normenklarheit auch des neuen Wahlrechts (alle Sachverständigen in der Anhörung am Montag bezeichneten es als noch komplexer und für den Normalbürger noch unverständlicher als das bisherige). Auch das ominöse Phänomen des negativen Stimmgewichts, vom Verfassungsgericht schon einmal gerügt, tritt offenbar wieder auf.

Verstoß gegen Erfolgswertgleichheit?

Und drittens, am gewichtigsten, sind es mögliche Verstöße gegen die Erfolgswertgleichheit der Stimmen aufgrund der Listenverrechnung und der drei unausgeglichenen Überhänge, die eine Klage rechtfertigen könnten. Sie verzerren zum einen den Länderproporz, was noch angehen mag, zum anderen aber auch den Parteienproporz. Man darf davon ausgehen, dass die Union in den kommenden Wahlperioden darauf dringen wird, die Zahl der unausgeglichenen Überhänge zu erhöhen und damit die Proporzverzerrung zu vergrößern – jedenfalls so lange CDU und CSU davon profitieren, also so lange die Überhangmandate sich bei ihnen ansammeln.

In Karlsruhe würde es so auch um den „Grundcharakter“ unseres Wahlsystems gehen. Laut Verfassungsgericht ist das System, das ja mit dem Gesetz der Koalition nicht verändert wird, dem Grundcharakter nach das einer Verhältniswahl. Dessen Kernprinzip ist, das Stimmenverhältnis zwischen den Parteien so exakt wie möglich in Mandate umzusetzen. Laut Wahlgesetz handelt es sich um eine „mit der Personenwahl verbundene Verhältniswahl“. Das Abweichen vom Proporz wird vor allem von CDU und CSU damit gerechtfertigt, dass die Personalisierungskomponente das erlaube.

Vorgeschaltet oder eingebettet?

Allerdings wird in diesem Lager (auch Ex-Verfassungsrichter gehören dazu) diese Definition allein so ausgelegt, dass es sich um eine mit der Mehrheitswahl verbundene Verhältniswahl handelt. Und diese Mehrheitswahl, so der regelmäßig von der Union als Sachverständiger benannte Heidelberger Rechtsprofessor Bernd Grzeszick, sei „vorgeschaltet“. Damit wiederum wird begründet, dass die errungenen Direktmandate garantiert sein müssen. Nach aktuellen Umfragen dürften CDU und CSU etwa 270 der 299 Wahlkreissieger stellen. Die Nominierung im Wahlkreis kommt derzeit also praktisch schon der Wahl in den Bundestag gleich.

[Alle wichtigen Updates des Tages zum Coronavirus finden Sie im kostenlosen Tagesspiegel-Newsletter "Fragen des Tages". Dazu die wichtigsten Nachrichten, Leseempfehlungen und Debatten. Zur Anmeldung geht es hier.]

Aber ist die Mehrheitswahl tatsächlich vorgeschaltet, läuft also quasi autonom ab? Oder findet sie nicht eher im Rahmen der das Wahlverhalten dominierenden Verhältniswahl statt? Es herrschen dann natürlich etwas andere Bedingungen als bei einer echten Mehrheitswahl wie zum Beispiel in Großbritannien. Eine Folge davon ist, dass viele Direktmandate mit Prozentanteilen von unter 35, im Extremfall gar unter 25 Prozent gewonnen werden können, was bei echter Mehrheitswahl sehr ungewöhnlich ist. Es handelt sich innerhalb des Systems der personalisierten Verhältniswahl wohl doch eher um eine unechte Mehrheitswahl.

Fragwürdige Direktmandatsgarantie

Anders gesagt: Zweitstimme ist entscheidend, Erststimme (also die Bestimmung des Wahlkreissiegers) ist als Element der Personalisierung nachrangig. Die Zweitstimme bestimmt das Sitzverhältnis, die Erststimme hat Einfluss darauf, wer auf diesen Sitzen Platz nimmt. Nicht mehr, nicht weniger. Die Direktmandatsgarantie für Wahlkreissieger, Kernelement der echten Mehrheitswahl, kann so gesehen im Rahmen einer personalisierten Verhältniswahl zumindest als fragwürdig gelten.

Ein Verfahren in Karlsruhe könnte dazu führen, endlich einmal das eigentliche Kernproblem des seit Jahren sich hinziehenden Wahlrechtsschlamassels zu beseitigen: die Uneinigkeit darüber, was „personalisierte Verhältniswahl“ eigentlich ist oder sein könnte. Das Gericht könnte dazu beitragen, dass Rechtsfrieden eintritt, den es derzeit nicht gibt. Dass der Spielraum für eine Reform weiter wird. Es spricht eigentlich nichts gegen den Gang nach Karlsruhe – außer der Befürchtung, die Richter könnten sich wieder, wie in früheren Urteilen, durchlavieren.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false