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Politik: Warum Semiya Simsek gern stolze Deutsche wäre

NSU-Opfer stellt ihr Buch vor / Kein Stuhl im Prozess für den türkischen Botschafter.

Berlin - Wenige Wochen vor dem Prozessauftakt gegen Beate Zschäpe und andere Beschuldigte der Neonazi-Mordserie wird immer deutlicher, dass das Verfahren eine erhebliche politische Dimension bekommen wird. Bei der offiziellen Vorstellung ihres Buches „Schmerzliche Heimat. Deutschland und der Mord an meinem Vater“ in Berlin warf Semiya Simsek, die Tochter des ersten Mordopfers Enver Simsek, dem Staat vor, „versagt“ zu haben. Gleichzeitig wurde bekannt, dass der türkische Botschafter und der Menschenrechtsbeauftragte des türkischen Parlaments keinen festen Platz im Münchner Gerichtssaal bekommen sollen.

Für die Anwälte der Familie Simsek, Jens Rabe und Stephan Lucas, stellen die Taten des sogenannten Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU), der mutmaßlich von 2000 bis 2007 insgesamt zehn Menschen getötet hat, einen ebenso massiven Angriff auf die bundesrepublikanische Ordnung dar wie die der Roten Armee Fraktion (RAF). Staatsführung und Politik hätten die Dimension des Geschehens nicht begriffen, auch weil sie „auf dem rechten Auge blind“ seien.

Rabe und Lucas stellten die Vermutung auf, dass sich die Politik mit ihren Äußerungen im Vergleich zu den RAF-Taten beim rechten Terror nur deshalb zurückhalte, „weil es sich bei den Opfern um Migranten handelt“. Rabe kritisierte zudem, dass sich Kanzlerin Angela Merkel (CDU) seit ihrer Konzerthausrede im Februar 2012 zum Gedenken der Opfer „öffentlich vollständig enthält“. In dem Buch werfen Rabe und Lucas auch Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) vor, „das Behördenversagen mit jedem Interview kleiner und kleiner“ zu reden. Die Politik nutze das Verfahren, um sich ihrer Verantwortung zu entledigen.

In München lehnte der Vorsitzende Richter Manfred Götzl eine Bitte um eine Platzreservierung für den türkischen Botschafter und den Menschenrechtsbeauftragten ab, obwohl acht der zehn Opfer des NSU Türken waren oder aus der Türkei stammten. Der NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestags hatte nach einem Besuch in der Türkei beim Gericht um eine Sitzplatzreservierung gebeten. Eine Gerichtssprecherin sagte, Platzreservierungen würden dem Grundsatz der Öffentlichkeit des Verfahrens widersprechen. Mit „höchster Wahrscheinlichkeit“ habe der Richter das Risiko vermeiden wollen, einen Revisionsgrund zu bieten. Götzl begründete im Wortlaut des Schreibens an den Bundestagsausschuss die Ablehnung allerdings mit Platzgründen.

Der Mammutprozess wird bis zum nächsten Jahr dauern. Allein die Ermittlungsakten umfassen 130 000 Seiten, die Anklageschrift beinahe 500 Seiten, mehr als 150 Personen sind daran beteiligt, 600 Zeugen und 22 Gutachter sollen gehört werden. Schon seit Längerem gibt es Kritik, weil trotz des weltweiten Interesses aus Sicherheitsgründen ein Saal gewählt wurde, in den nur etwa 50 Journalisten und 50 Zuhörer passen.

Am Freitag äußerte Semiya Simsek einen Wunsch: „Ich möchte am Ende des Prozesses mit Stolz sagen können: Ich bin Deutsche.“ Armin Lehmann/mit AFP

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