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Ein Passant geht am 18.09.2017 in Berlin an Wahlplakaten mit dem Porträt der Grünen-Spitzenkandidaten Katrin Göring-Eckardt und Cem Özdemir, Bundeskanzlerin Merkel (CDU) und dem SPD-Parteivorsitzenden Martin Schulz vorbei.

© dpa/ Kay Nietfeld

Was die Wahl über das Land sagt: Das Glück der Deutschen im Wahljahr 2017

Das eine große Problem, das die gesamte Nation herausfordert, hat dieser Wahlkampf nicht finden können. Ist das nun gut oder schlecht? Ein Essay.

Ein Essay von Anna Sauerbrey

Wahlen und Wahlkämpfe sind Diagnosen des nationalen Befindens. Welche Themen bewegen das Land? Wo sitzt der gemeinsame Schmerz, wo die Leidenschaft, wo die Angst? Oder, ganz einfach: Wie geht es uns? Das Seltsamste an dem nun zu Ende gegangenen Bundestagswahlkampf 2017 ist vielleicht, wie diffus die Diagnose geblieben ist.

Anders als in anderen westlichen Ländern, in denen sich eine Mehrheit auf die Ordnung der Agenda einigen kann – Frankreich braucht eine Arbeitsmarktreform, der Süden Europas kämpft mit der Jugendarbeitslosigkeit, die USA müssen alles von der Infrastruktur über das Justizsystem bis zum gesellschaftlichen Zusammenhalt reparieren – müssen deutsche Politiker eher an einer Vielzahl kleiner bis mittelgroßer Stellschrauben drehen. Die große nationale Herausforderung, die Emmanuel Macron sofort zum politischen Heroen promoviert hat, gibt es in Deutschland nicht.

Die Angst, ein Thema übersehen zu haben

Darüber könnte man sich freuen. Tun die Deutschen aber nicht. Die Unfähigkeit, zu sagen, wie es dem Land geht, hat sich in den vergangenen Monaten vielmehr zu einem diffusen Krisengefühl verdichtet; zu der Angst, dass da irgendwo auf der deutschen Seele ein schwarzer Fleck ist, den bloß keiner sieht; zu der Angst, dass der Balken der AfD am Wahlabend in ungeahnte Höhen wachsen könnte, weil man irgendetwas übersehen hat.

Die Reaktion der Union war eine Art Aussitz-Wahlkampf. Nur nicht bewegen, aus Angst, in dem dichten Nebel auf irgendetwas zu treten und es zu wecken. Bundeskanzlerin Angela Merkel bot erneut möglichst wenig Angriffsfläche.

Der große Aufsteiger AfD

In diesem Nebel musste der oberste Herausforderer, Martin Schulz von der SPD, ein zugkräftiges Thema finden. Monatelang stocherte er herum, und er fand: nichts. Zunehmend verzweifelt boten der SPD-Kanzlerkandidat und sein Team den Deutschen immer neue Themen an. Mehr Geld in der Tasche für die breite Mitte, ein Rentenkonzept, kostenfreie Bildung für alle, außenpolitische Härte gegen die Türkei. Da musste doch etwas sein, irgendeine wunde Stelle, eine Sehnsucht, ein Verlangen. Doch die Umfragewerte der SPD sanken mehr oder weniger stetig.

Der große Aufsteiger an diesem Wahlsonntag wird dagegen die AfD sein, acht bis zwölf Prozent der Deutschen wollen der rechtsextremen Partei laut Meinungsforschern ihre Stimme geben, sie wird möglicherweise sogar drittstärkste Fraktion.

Gibt es einen Zusammenhang zwischen dem Erstarken der AfD und der seltsamen politischen Leere der deutschen Seele?

Blindes Vertrauen in eine Politikerin: Ist das nicht großartig?

Es gibt so viele Themen, die die Deutschen bewegen, Sendungen wie die „ARD-Wahlarena“ haben das gezeigt. Da war Leidenschaft zu spüren, weil sich viel zu wenige Pfleger um viel zu viele Alte kümmern müssen, weil manche von ihrer Rente nicht leben können, weil Massentierhaltung Tiere quält. Aber was sind die ein, zwei großen Kontroversen, für die eine Mehrheit brennt?

Vor zwei Jahren war das die Flüchtlingskrise. Fast einstimmig (90 Prozent) sagten die Deutschen 2015 laut Politbarometer der Forschungsgruppe Wahlen, dass sei ein „wichtiges Problem“. Heute entstehen sehr unterschiedliche Prioritätenlisten, je nachdem, welches Umfrageinstitut wie fragt. Im August etwa wollte Emnid von den Bürgern wissen: „Wie wichtig sind Ihnen bei der Stimmabgabe die folgenden Aufgabenbereiche?“ Einig sind sich immerhin zwei Drittel, dass alle Kinder gleiche Bildungschancen haben sollten. Es folgten, in absteigender Reihenfolge der Häufigkeit der Nennungen, die Bekämpfung von Altersarmut, Kriminalität und Terrorismus sowie eine bessere Krankenversorgung und Pflege. Die Außenpolitik, immer als Merkels Trumpf gehandelt, spielt eine untergeordnete Rolle. Die Flüchtlingspolitik kam quasi gar nicht vor. Fragt man aber, wie das Politbarometer, nach den „wichtigen Problemen der Deutschen“, kommt die Bildungspolitik weit weniger häufig vor. Die Flüchtlingspolitik nennt jeder Zweite – sie bleibt damit das Topthema, gefolgt von der Rente (von rund einem Fünftel genannt).

Ist Deutschland derart ungerecht?

Die SPD war in den Wahlkampf eingestiegen mit „Zeit für mehr Gerechtigkeit“. Aber ist Deutschland ein derart ungerechtes Land? Auch hier gilt: Es kommt drauf an, wen und wie man fragt und welche Perspektive man einnimmt. Fragt man die Statistiken der OECD, sieht man zum Beispiel, dass Deutschland noch immer wahnsinnig ungerechte und ausgrenzende Schulen hat. Man sieht aber auch, dass das Land beim „Gini-Index“, der die Einkommensverteilung misst, im oberen Mittelfeld rangiert, also die Einkommen relativ gleich verteilt sind. Aus der Vogelperspektive ist Deutschland ein verhältnismäßig egalitäres Land. Fragte man den Ökonomen Peter Bofinger oder DIW-Präsident Marcel Fratzscher, würden sie allerdings argumentieren, dass die unteren Einkommen stagnieren und viele Menschen deshalb aufgrund der Inflation einen realen Einkommensverlust hinnehmen mussten – was auf die oberen Schichten nicht zutrifft. Ifo-Präsident Clemens Fuest hält dann stets die niedrige Arbeitslosigkeit dagegen: Besser eine mäßig bezahlte Arbeit, meint er, als gar keine.

Der eine sucht den wunden Punkt, die andere vermeidet alle Aufregung.
Der eine sucht den wunden Punkt, die andere vermeidet alle Aufregung.

© dpa

Es ist natürlich nicht so, als hätte Deutschland keine Probleme oder keinen Reformstau. Vieles ist in den vergangenen Wochen auch benannt worden: die steuerliche Entlastung der Mittelschicht, mehr Bildungsgerechtigkeit, das fehlende Einwanderungsrecht, Anpassungen im Rentensystem, die bessere Bezahlung von Pflegekräften, die Digitalisierung und so weiter. Doch kein Thema für sich mobilisierte die Menschen.

Die Deutschen blieben passiv, und die These machte die Runde, sie seien sediert, Merkel habe sie sediert. Das Fehlen klarer politischer Alternativen und die Grokoisierung der deutschen Politik werden inzwischen allgemein als Ursachen für das Übel AfD gesehen.

Es stimmt ja: Angela Merkel hat royale Züge entwickelt. Ihr „Vertrauen Sie mir“ hat etwas Entmündigendes. Dasselbe gilt natürlich auch für die Unterstellung, ihre einschläfernde Taktik wirke auf die Massen. Wenn die Bürger den Wechsel wirklich wollten, würden sie sich ihn schon holen. Man sollte es vielmehr einmal so sehen: Während die Bürger in vielen anderen liberalen Demokratien das Vertrauen in ihre politische Klasse zunehmend verlieren, gewinnt Angela Merkel möglicherweise die zweite Wahl in Folge mit dem politischen Angebot, ihr blind zu vertrauen. Ist das nicht großartig?

Die Ursachen des Vertrauensverlusts

Die Politikwissenschaft diskutiert derzeit viel über die Ursachen des Erfolges populistischer Parteien. Eine Populismus-Formel wurde noch nicht gefunden. Immer wieder aber war und ist ein verbreitetes Misstrauen in die politische Klasse zu beobachten, wenn populistische Parteien stark werden – gepaart mit dem Willen bei Teilen der Politelite, diesen Vertrauensverlust zu instrumentalisieren und gegen das System zu wenden.

In den USA zum Beispiel, das zeigten die Politologen Yasha Mounk und Roberto Stephan Foa in diesem Jahr im „Journal of Democracy“, hat sich das seit Jahren stark sinkende Vertrauen in zentrale Institutionen wie den Kongress zu einem allgemeinen Misstrauen gegen die liberale Demokratie an sich kristallisiert. Unter jungen Amerikanern hält mittlerweile ein Viertel die Demokratie für eine „schlechte“ oder „sehr schlechte“ Staatsform. Auch in Europa stehen junge Menschen genau dort besonders kritisch zur Demokratie, wo populistische Parteien stark sind. Mounk und Foa sprechen von einem „Dekonsolidierungsprozess“ westlicher Demokratien.

Die Ursachen für diesen Vertrauensverlust sind vielfältig: Vermeintliche Verlierer der liberalen Kulturrevolution fühlen sich nicht mehr repräsentiert, die Globalisierung führt zu einer echten Abkopplung der Wähler, politische Entscheidungen werden in internationale Organisationen verlagert. Die Antwort der populistischen Parteien aber ist überall ähnlich, wie die Politikwissenschaftler Cas Mudde und Jan Werner Müller herausgearbeitet haben. Gemeinsam ist ihnen das Narrativ vom einen, „wahren Volk“, das von den herrschenden Eliten nicht vertreten wird und nun in einer „Bewegung“ sein Recht zurückfordert.

Die Positionen der AfD

Von diesem Narrativ lebt auch die AfD. Sie entstand aus politischen Positionen – gegen den Euro, gegen die Aufnahme von Flüchtlingen – die weder von den großen Parteien noch von den deutschen Medien ausreichend aufgegriffen wurden. Im aktuellen Bundestagswahlprogramm der AfD heißt es: „Heimlicher Souverän in Deutschland ist eine kleine, machtvolle politische Oligarchie, die sich in den bestehenden politischen Parteien ausgebildet hat. Sie hat die Fehlentwicklungen der letzten Jahrzehnte zu verantworten. Es hat sich eine politische Klasse herausgebildet, deren vordringliches Interesse ihrer Macht, ihrem Status und ihrem materiellen Wohlergehen gilt.“

Und dennoch – die meisten der Faktoren, die populistische Bewegungen haben erstarken lassen, treffen auf Deutschland nicht zu – oder besser, treffen im Deutschland des Jahres 2017 nicht mehr zu.

Die AfD wurde vom Politi-Kapitalismus einfach aufgekauft

Während das Vertrauen in die Regierungen zwischen der Finanzkrise und dem Beginn der Flüchtlingskrise im Schnitt aller OECD-Länder gesunken ist, stiegen die deutschen Werte bis zum Beginn der Flüchtlingskrise deutlich an. Ein vergleichbarer Vertrauensverlust der Jüngeren in die Demokratie wie zum Beispiel in Frankreich, ist in Deutschland nicht zu beobachten.

Auch von einer politischen Krise kann heute keine Rede mehr sein. Wer hätte gedacht, dass die Deutschen ihr politisches Zen nach den hysterischen Jahren 2015 und 2016 so schnell wiederfinden? In Freital und Bautzen war die Stimmung Mitte 2015 beziehungsweise Anfang 2016 pogromähnlich. Als Angela Merkel im August 2015 Heidenau besuchte, schrie eine Frau aus der Menge: „Du dumme Fotze.“ Anfang 2016, nach den brutalen Übergriffen junger Migranten auf hunderte Frauen in der Kölner Silvesternacht, breitete sich die extreme Anspannung in ganz Deutschland aus. Einen Nachhall schien es in diesem Wahlkampf zu geben, als Angela Merkel erneut in ostdeutschen Städten niedergepfiffen wurde. Zumindest zum Teil aber waren die Demonstrationen wohl organisiert. Die rechte Szene versucht, die Wut am Köcheln zu halten.

Das Verdienst der Großen Koalition

Die Konsolidierung ist das Verdienst der viel beschimpften Großen Koalition. Sie hat viele Positionen der AfD schlicht umgesetzt, mit der Einstufung weiterer Länder als sichere Drittstaaten, mit den Asylpaketen eins und zwei, mit den Sicherheitsgesetzen für Gefährder. Im deutschen Polit-Kapitalismus hat die AfD eine Marktlücke entdeckt – und wurde dann aufgekauft. Das mag aus liberaler, linker Perspektive schwer erträglich sein. Aber es hat Deutschland vielleicht gerettet. Das Land konnte heilen, bevor sein Herz richtig krank wurde.

Am Abend des TV-Duells von Kanzlerin und Herausforderer war der Begriff „Musterfeststellungsklage“ der am häufigsten gegoogelte Begriff in Deutschland. Kommentatoren aus dem Ausland lachten sich schlapp. Angela Merkel und Martin Schulz, die Gegen-Ikone zu Donald Trump und ihr politischer Herausforderer, diskutieren vor 16 Millionen Wählern über die Musterfeststellungsklage der Betroffenen im Dieselskandal – im wichtigsten Land der Europäischen Union, in Deutschland, dem Land der G-20-Präsidentschaft, the rising star am Himmel der internationalen Politik. Sollen sie lachen.

Woran liberale Demokratien sterben

Liberale Demokratien sterben nicht daran, wenn gleich zwei fähige Politiker mittelgroße Probleme ernst nehmen. Sie sterben nicht daran, nur Probleme von der Größe der besseren Durchsetzung von Verbraucherrechten zu haben. Sie sterben nicht daran, dass die Leute in ihnen alles in allem „gut und gerne leben“. Sie sterben nicht daran, saturiert zu sein. Liberale Demokratien sterben, wenn die politischen Eliten sich wirklich gegen die Demokratie wenden. Sie sterben an mangelndem Vertrauen der Wähler in die Politik. Das Glück der Deutschen ist das Glück der Musterfeststellungsklage.

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