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Politik: Was ist eigentlich gerecht, Herr Hengsbach?

Der Frankfurter Sozialethiker über die Reformdebatte, Schokoeisbecher – und warum Deutschland immer noch unter seinen Verhältnissen lebt

Herr Hengsbach, verraten Sie uns, was Sie sich geleistet haben, als Sie sich das letzte Mal etwas gegönnt haben?

Ich war gestern Abend mit meiner Großnichte aus Toulouse und ihrer Freundin Eis essen.

Ein großes oder kleines Eis?

Ich hätte gerne einen großen Schokobecher gegessen. Aber die beiden 15Jährigen sind sehr darauf bedacht, dass das Eis nicht satt macht. Darum gab es für jeden nur zwei Kugeln.

Diese Zurückhaltung hatte also mit Diät zu tun und nicht mit der Vorstellung, dass alle in der Gesellschaft den Gürtel enger schnallen müssen.

Die politische Debatte darüber ist völliger Unsinn. Für den einzelnen Haushalt kann es sinnvoll sein, dass er spart. Aber für Deutschland insgesamt wäre es verheerend, wenn jetzt jeder den Gürtel noch enger schnallt. Wir in Deutschland leben nicht über unsere Verhältnisse, sondern weit unter unseren Verhältnissen.

Wieso das?

Beispielsweise leisten wir uns hohe Exportüberschüsse. Und wir schöpfen die Arbeitsfähigkeit der Bürger, also das Verhältnis der Erwerbstätigen zu den Erwerbsfähigen, nur zu 70 Prozent aus. Wir könnten unser Arbeitsvermögen und Produktionspotenzial weit mehr auslasten und ausbauen. Stattdessen suchen wir immer neue Prügelknaben, denen wir zumuten wollen, dass sie ihre Ansprüche weiter absenken.

Die öffentliche Debatte läuft ganz anders. Wir können uns alles nicht mehr leisten, heißt es, die Sozialsysteme sind nicht mehr finanzierbar. Wie erklären Sie diesen Widerspruch?

Wir operieren in der öffentlichen Diskussion mit Legenden, die einer empirischen Überprüfung nicht standhalten.

Was meinen Sie damit?

Wir führen die Diskussion viel zu stark aus der Opferrolle heraus. Die Bundesrepublik ist nicht Opfer der Globalisierung, sondern ihr entscheidender Motor. Zwei Drittel unserer Exporte wickeln wir mit der Europäischen Union ab. Hier liegt unsere „globale“ Herausforderung. Im Augenblick haben wir in der EU zwar die rote Laterne, aber ein Drittel des Volkseinkommens in der EU wird in der Bundesrepublik erwirtschaftet.

Sie sagen es selbst: Deutschland ist Schlusslicht. Wollen Sie im Ernst behaupten, wir hätten keine Probleme?

Probleme sind das eine, Legenden das andere. Es ist beispielsweise eine Legende, dass die Demografie für unsere Gesellschaft wie eine Zeitbombe tickt. Angeblich haben wir zu wenig junge Leute. Die Diskussion dreht sich einzig um die biologische Zusammensetzung der Bevölkerung. Nach dieser Rechnung müssten die Entwicklungsländer die reichsten Nationen der Welt sein. In Wirklichkeit geht es um die Zahl der Erwerbstätigen, nicht die der Erwerbsfähigen. Es geht um die Höhe der Produktivität und die Wachstumschancen.

Sie geben also Entwarnung. Trotzdem gibt es hitzige Debatten über die mangelnde Gerechtigkeit zwischen Jung und Alt.

Das sind Scheindiskussionen. Die eine Generation ist doch nicht der 23-jährige Philipp Mißfelder und die andere Generation der 85-Jährige, der ein Hüftgelenk braucht. Die wirklich großen Herausforderungen spielen sich innerhalb derselben Generation ab. Das ist die seit einem Vierteljahrhundert verfestigte Massenarbeitslosigkeit. Das ist das Missverhältnis von Berufs- und Lebenschancen zwischen Männern und Frauen. Und das sind die unterschiedlichen Ressourcen von Haushalten mit Kindern und Haushalten ohne Kinder.

Mit Generation meinen Sie alle Erwerbsfähigen, also praktisch alle Menschen zwischen 16 und 65?

In einer Erwerbsarbeitsgesellschaft gibt es eigentlich keine Generationen im Sinne von Jung und Alt, sondern es gibt die wirtschaftlich Aktiven und die nicht Aktiven. Die entscheidende soziale Frage ist, wie das Ergebnis der Erwerbsarbeit, das Volkseinkommen, auf diese beiden Großgruppen verteilt wird.

Von denen zu viele keine Arbeit haben.

Uns fehlen sieben Millionen wettbewerbsfähige Arbeitsplätze.

Das versucht die Regierung mit den Hartz-Reformen und der Verschärfung der Zumutbarkeitskriterien in den Griff zu bekommen. Sind das richtige Rezepte?

Diese so genannten Reformen folgen einem bestimmten Muster, das zu einer Deformation des gesellschaftlichen Zusammenlebens führt. Zunächst inszenieren die Politiker eine riesige Show – ein Jahrhundertwerk bei der Rentenreform, der Gesundheitsreform, der Steuerreform. Nach einem halben Jahr stellt sich dann heraus, dass sich die Grundlagen dieser Jahrhundertwerke bereits in Luft aufgelöst haben. Dann kommt nur noch Kesselflickerei.

Was meinen Sie damit?

Man greift zu Notmaßnahmen. Das sind dann die so genannten Sparmaßnahmen, die einem einzigen Grundmuster folgen: Immer mehr gesellschaftliche Risiken, für die der Einzelne nicht verantwortlich ist, werden bei ihm abgeladen. Das überfordert den Einzelnen und entpflichtet die Solidargemeinschaft.

Der Kanzler hat Zumutungen für alle angekündigt.

Die Zumutungen sind aber nicht gerecht verteilt. Er bürdet sie vor allem bestimmten Gruppen auf, den Sozialhilfeempfängern, den Arbeitslosen, Kranken, Rentnern oder den unteren Lohngruppen. Es werden nicht die tragfähigen Schultern am stärksten belastet, die Zumutungen werden vielmehr dem unteren Rand der Gesellschaft zugewiesen.

Sollten wir also niedrigere Eingangssteuersätze einführen, aber nicht den Spitzensteuersatz absenken?

Der Trend der Einkommensbesteuerung sollte korrigiert werden. Die Einkommen aus Vermögen und Unternehmenstätigkeit sind in den letzten 25 Jahren im Vergleich zum Lohneinkommen steuerlich entlastet worden. Die Lohnquote stagnierte oder ist gesunken, während die Gewinnquote kräftig gestiegen ist. Die Vorstellung, dass eine solche Steuerpolitik bei den Eliten Impulse erzeugt, zu investieren und neue Arbeitsplätze zu schaffen, hat sich als Trugschluss erwiesen. Der Glaube, dass eine stärkere Spreizung der Einkommen zu mehr Wohlstand führt, der dann auf alle verteilt werden kann, ist ein Märchen.

Was wäre richtig?

Die öffentlichen Investitionen müssen gesteigert werden, damit sie private nach sich ziehen. Doch der staatliche Impuls wird vernachlässigt, weil Finanzminister Eichel meint, er müsse – wie ein sorgsamer Hausvater – sparen. Durch eine solche Politik werden Wachstumschancen verspielt.

Wie müssten solche Impulse aussehen?

Zu tun gäbe es genug. Beispiel ökologische Umsteuerung. Die brächte neue Märkte und neue Aufgaben. Es kann doch nicht sein, dass wir nach dem Ausstieg aus der Atomkraft nun in Kohle investieren. Auch fehlt ein Konzept für eine innovative Verkehrs- und Agrarpolitik.

Das allein wird das Problem der Massenarbeitslosigkeit nicht lösen.

Auf absehbare Zeit bleibt die Erwerbsarbeit die Schlüsselgröße persönlicher Identität, gesellschaftlicher Anerkennung und materiellen Wohlstands. Das Arbeitsvermögen bleibt die kostbarste Ressource. Doch die Industrie kann seit längerem nicht mehr für alle solche Arbeitsplätze bieten. Die Zukunft der Arbeit in einer reifen Industriegesellschaft ist darum die Arbeit am Menschen – Bildung, Gesundheit und Kultur. Die öffentliche Energie müsste viel stärker in diese neuen Sektoren von Erwerbsarbeit gelenkt werden. Wir brauchen eine Umschichtung aus der traditionellen industriellen Konsumgesellschaft in eine kulturelle Dienstleistungsgesellschaft hinein.

Wie soll das funktionieren?

Wir müssen uns beispielsweise von dem Konzept verabschieden, dass der Mann zwölf oder auch 16 Stunden am Tag in der Firma arbeitet, um eine Familie zu ernähren. Er muss diese Arbeitsbelastung drastisch reduzieren, damit auch er sich an der Erziehungs- und Betreuungsarbeit in der Familie beteiligt. Er muss, wie die Frauen auch, verschiedene Arbeitsformen kombinieren. Das wäre Geschlechterdemokratie. Doch diese Fragen werden in Debatten über die zukünftige Gesellschaft gerne ausgeklammert. Männer, die ihre Arbeitszeit verkürzen wollen, werden von ihren Chefs schräg angesehen. Das darf einfach nicht sein.

Das erfordert eine Neudefinition von Arbeit.

Vor allem Männer, aber auch Frauen müssen lernen, drei Arbeitsformen als gleichrangig zu verstehen: traditionelle Erwerbsarbeit, Beziehungsarbeit und zivilgesellschaftliches Engagement.

Von Ehrenämtern kann man nicht leben.

Diese verschiedenen Arbeitsformen zusammen, und nicht nur allein die Erwerbsarbeit, müssen zu einer sozialen Absicherung des Einzelnen führen. Das ist die große Herausforderung für die Zukunft. Das müsste man aber dann als politisches Projekt in allen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Bereichen voranbringen.

Wo soll der Anstoß für einen solchen tief greifenden Wandel herkommen?

Der Anstoß kann auf keinen Fall von einem einzelnen Sozialhilfeempfänger oder Arbeitslosen kommen, der nun gedrängt wird, einen bestimmten Arbeitsplatz anzunehmen. Das ist für mich Ausdruck der Deformation, die wir in der heutigen Reformdiskussion erleben: der Mikroblick.

Was meinen Sie damit?

Man nimmt einzelne Leute ins Visier und will sie arbeitswillig oder arbeitsfähig machen. Andere nimmt man ins Visier, weil sie angeblich zu riskant leben. Auch der Versuch, alle gesellschaftlichen Probleme aus betriebswirtschaftlicher Perspektive zu deuten, wirkt deformierend. Es heißt, alle müssen sich dem Wettbewerb stellen, alle müssen mit- und gegeneinander konkurrieren – Schulen, Krankenhäuser, Krankenkassen, Arbeitsämter. Es fehlt der Makroblick, die Sicht auf die gesamtwirtschaftlichen und gesamtgesellschaftlichen Zusammenhänge.

Ist dieser fehlende Makroblick nicht auch Ausdruck dafür, dass uns die komplexen Probleme über den Kopf wachsen?

Wir nehmen uns nicht die Zeit, die Probleme zu sortieren und dann zu integrieren.

Noch mehr Zeit? Dass die Rente ein Problem wird, wissen wir seit 20 Jahren.

Es ist nicht nur eine Frage der Zeit, sondern auch eine Frage der Macht. Nehmen Sie als Beispiel die Zusammenkunft vor kurzem im Kanzleramt mit den Energiekonzernen. Hier ging es um die künftige Energiepolitik Deutschlands. Und der Umweltminister, der das Konzept der Nachhaltigkeit vertritt, war nicht dabei. Das ist doch ein eindeutiges Signal, dass die Frage der umweltverträglichen Energieversorgung nachrangig behandelt wird.

Der SPD-Generalsekretär Scholz will die soziale Gerechtigkeit neu definieren.

Scholz spricht von einer Chancengerechtigkeit. Ich halte das für ein Spiel mit Worten. Wenn das ernst gemeint ist, müssen junge Menschen einen realen Zugang zu den Bildungsmöglichkeiten bekommen, die ihren Begabungen entsprechen. Davon sind wir weit entfernt.

Was ist für Sie gerecht?

Gerechtigkeit wird immer in einem bestimmten Kontext definiert. Für die solidarischen Sicherungssysteme heißt Gerechtigkeit, dass die Beiträge nach der Leistungsfähigkeit der Mitglieder erhoben werden, die Ansprüche aber sich nach dem Bedarf richten. Diese bisher erwerbswirtschaftliche Grundlage muss jedoch demokratisch erweitert werden: Eine Bürgerversicherung schließt sämtliche Personen mit sämtlichen Einkommen ein.

Wenn Sie die Reformdiskussionen der Ära Kohl vergleichen mit denen der Ära Schröder, wo sind die Unterschiede?

Ich sehe kaum welche. Vielleicht hat Schröder eine gespaltene Seele bei der Durchsetzung der Reformen, wie er sie nennt. Doch die Konzepte sind gesteuert von der gleichen Marktdogmatik und ihren Glaubenssätzen: Vertrauen auf die Selbstheilungskräfte des Marktes; der schlanke Staat ist der beste aller möglichen Staaten; wenn die Zentralbank die Inflation bekämpft, kommen Wachstum und Vollbeschäftigung automatisch. Diese Politik war bisher erfolglos, und sie wird erfolglos bleiben.

Was kann denn Erfolg bringen?

Ein Land allein kann das nicht schaffen. So wie ein Unternehmen nicht den gesamten Arbeitsmarkt im Ruhrgebiet sanieren oder Bayern allein nicht die deutsche Wirtschaft ankurbeln kann.

Also Europa?

Denken Sie an den Marshallplan der Amerikaner nach dem Zweiten Weltkrieg. Das waren eine abenteuerliche Vision und ein wirksames Investitionsprojekt. Westeuropa müsste den Mut haben, einen solchen Plan für sich und das Beitrittsgebiet aufzulegen. Wir sollten die Erweiterung als Wachstumsmöglichkeit begreifen und nicht als Kostenbelastung für den Agrarmarkt. Europa braucht eine konzertierte Wirtschafts-, Finanz- und Einkommenspolitik.

Schon bei der Außenpolitik funktioniert das nicht.

Gibt es eine taugliche Alternative dazu, den Makroblick zu schärfen und grenzübergreifende Lösungen zu wählen?

Politik muss sich immer auch in Personen verkörpern. Helmut Kohl und François Mitterrand waren der Motor beim Euro. Könnte etwa Joschka Fischer diesen neuen Job machen?

Fischer hätte sicher die nötige kommunikative Kompetenz. Aber die soziale Ökonomie ist nicht sein Feld. Wolfgang Clement sieht sich im Augenblick mit deutschen Hausaufgaben überbeschäftigt. Er hätte die nötige Durchsetzungskraft. Aber bei ihm sucht man ökologisches Bewusstsein wie eine Stecknadel im Heuhaufen.

Das Gespräch führten Ingrid Müller und Martin Gehlen. Die Fotos machte Uwe Steinert.

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