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Jung, mutig, fromm: die Bloggerin und Juristin Betül Ulusoy

© Florian Boillot/Davids

Weg mit Berlins Neutralitätsgesetz!: Betül Ulusoy hat eine wichtige Debatte vorangetrieben

Politisch engagierte, junge muslimische Frauen, die sich mit ihren Ideen und Überzeugungen mutig einbringen in die Zivilgesellschaft – haben sich das nicht auch Integrationspolitiker in Neukölln stets gewünscht? Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Malte Lehming

Neutralität – das klingt nach Zurückhaltung, Parteilosigkeit, Gleichheit. Vor zehn Jahren wurde in Berlin das Neutralitätsgesetz verabschiedet. Es verbietet Lehrern sowie Beamten, die im Bereich der Rechtspflege, des Justizvollzugs oder der Polizei beschäftigt sind, das Tragen auffallender religiöser Symbole. Das Verbot, eines der strengsten in Deutschland, gilt für alle Religionen, gleich ob christlich, jüdisch oder muslimisch. Für Beamte im Vorbereitungsdienst, Rechts- und Lehramtsreferendare können Ausnahmen gemacht werden. Jedoch geschieht das nur selten.

Vor drei Monaten hat das Bundesverfassungsgericht entschieden, dass Lehrerinnen das Tragen eines Kopftuches im Unterricht nicht generell verwehrt werden darf. Seitdem steht auch das Berliner Neutralitätsgesetz auf dem Prüfstand. Ehrhart Körting, damals SPD-Innensenator von Berlin und maßgeblich verantwortlich für das Neutralitätsgesetz, meint, dieses müsse im Lichte der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts neu ausgelegt werden.

Außerdem sieht er dessen Wirkung heute eher kritisch. Von der Wirtschaft sei es missbraucht worden, indem sich etwa Supermärkte weigerten, Kassiererinnen mit Kopftuch einzustellen, frei nach dem Motto: Wenn der Staat das Kopftuch verbietet, darf ich das auch. Und muslimischen Frauen, bilanziert Körting, habe das Gesetz vielfach den Weg in die Emanzipation erschwert statt erleichtert.

Das ist der Hintergrund, der die Heftigkeit der Auseinandersetzung um die Berliner Juristin und Bloggerin Betül Ulusoy erklärt. Hier die Vertreter eines durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes juristisch verunsicherten Bezirkes Neukölln, denen die Emanzipation vom Erbe des langjährigen Bezirksbürgermeisters Heinz Buschkowsky schwerfällt.

Dort eine sehr selbstbewusste Muslima, die keine Scheu hat, aus ihrem persönlichen Anliegen eine großgesellschaftliche Debatte über Religionsfreiheit zu machen. Ihr daraus einen Vorwurf zu machen, ist grotesk. Politisch engagierte, junge muslimische Frauen, die sich mit ihren Ideen und Überzeugungen mutig einbringen in die Zivilgesellschaft – haben sich das nicht auch Integrationspolitiker in Neukölln stets gewünscht?

Deutsch und fromm: Wo kommen wir denn dahin?

Doch leider scheinen dort immer noch manche zu meinen, der Preis für gelungene Integration bestehe in der Aufgabe der eigenen Religiosität. Deutsch und fromm: Wo kommen wir denn dahin?

Es wundert nicht, dass eine zunehmend säkulare, zum Teil identitätsvergessene Bevölkerungsmehrheit sich von den Insignien einer vitalen religiösen Minderheit herausgefordert fühlt. Von links geschieht dies unter Rückgriff auf antireligiöse Momente der Aufklärung sowie die Frauenemanzipation. Von rechts wird die Negativliste ergänzt durch die Vorhaltung einer angeblichen Fremdheit des Islam im christlich-jüdisch geprägten Abendland. Wenn es um das Kopftuch geht, lässt sich eine „Emma“-Streitschrift von Alice Schwarzer kaum von einem „Pegida“-Flugblatt unterscheiden. Gemeinsam ist dieser großen Koalition die Überzeugung, Religion sei ausschließlich Privatsache.

Als Vorbild dafür galt lange Zeit der Laizismus in Frankreich, die strikte Trennung von Kirche und Staat, besser gesagt: von Religion und Staat. Was historisch im Verlauf der Französischen Revolution durchaus seine Berechtigung hatte, nämlich den Einfluss der katholischen Kirche auf die Regierung zu beschränken, hat jedoch längst diskriminierenden Charakter angenommen. Vor öffentlichen Plätzen stehen gelegentlich Schilder, die das Betreten mit Hunden, Getränken und religiösen Symbolen verbieten. Müttern in Kopftüchern wird untersagt, aufs Schulgelände zu gehen, um ihre Kinder abzuholen. Auch das Aufhängen eines Werbeplakats für ein Konzert, dessen Erlöse den „Christen des Orients“ zugutekommen sollten, war kurzfristig verboten worden.

Solch aggressive Verdrängung aller religiösen Symbole aus dem öffentlichen Raum wird insbesondere von Muslimen als staatlich angeordnete Religionsfeindschaft wahrgenommen. Als Folge davon wächst ihre Entfremdung vom Staat und seinen Institutionen. Nach Angaben der Nationalen Beobachtungsstelle gegen Islamophobie, einer Bürgerrechtsorganisation, richteten sich in den vergangenen zwei Jahren achtzig Prozent aller antimuslimischen Gewaltakte gegen Frauen, die meisten Opfer waren verschleiert.

Gerade ihre Laizität belastet die französische Einwanderungspolitik. Je früher das auch Neuköllns verantwortliche Politiker erkennen und die Lehren für ihren Bezirk daraus ziehen, desto besser für alle – nicht nur für Betül Ulusoy.

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