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Politik: Weg mit den Girlanden

Von Moritz Schuller

Die Esten waren klug, sie hatten bisher noch keinen Termin für die Ratifizierung der EUVerfassung festgelegt. Jetzt brauchen sie auch keinen mehr, denn diese Verfassung, die von allen EU-Mitgliedsländern angenommen werden musste, ist nach den Franzosen nun auch von den Niederländern abgelehnt worden. Die Ratifizierung dennoch fortzusetzen, damit den übrigen Mitgliedsländern die Möglichkeit zur Meinungsäußerung zu geben, wäre kaum mehr als der Kartenvergleich nach einem beendeten Pokerspiel: Was hattest Du eigentlich auf der Hand?

Doch die europäische Politik ist kein Spiel, und deshalb ist auch die Krise, in der sich die Union befindet, äußerst real. Das Argument, bei der Abstimmung hätten sie gemogelt, weil es Franzosen und Niederländern gar nicht um die Verfassung gegangen sei, sie wären beim Referendum doch nur nationalen Stimmungen gefolgt, ergibt umgekehrt deshalb auch mehr Sinn. Wenn selbst Kerneuropäer ihren Alltagsärger wichtiger nehmen als solch historische Bekenntnisse zu Europa, dann zeigt sich darin ein dramatisch oberflächliches Europa-Interesse. Ihnen ist nicht einmal ein Vorwurf zu machen. Sie messen dem Thema schlicht die gleiche Bedeutung bei wie ihre Politiker, die sich als Großeuropäer gerieren, dann aber nicht bereit sind, das eigene politische Schicksal mit dem Ausgang des Referendums zu verknüpfen.

Zu denken, diese Krise existierte nicht, wäre die Verfassung – wie in Deutschland – gar nicht erst dem Volk zur Abstimmung präsentiert worden, ist falsch. Das Non und das Nee galten nicht nur einem kompliziertem Vertragswerk, das niemand wirklich gelesen hatte, sondern auch dem polnischen Klempner, der Heuschrecke aus Amerika, dem türkischen Kopftuch. So diffus die einzelnen Gründe, die Gesamtbotschaft war eindeutig: so nicht weiter. Nicht die Verfassung „hat ein Vermittlungsproblem“, wie Günter Verheugen nun meint, sondern längst Europa selbst.

Wirklich offen redet nur, wer am Abgrund steht, und so bestünde jetzt durchaus die Möglichkeit, fast zum ersten Mal, ohne die üblichen pathetischen Girlanden darüber zu reden, was eine Union aus europäischen Staaten in der Zukunft realistisch leisten kann. Und vielleicht steht am Ende eines solchen Prozesses eine andere, eine Verfassung, knapper und schlanker, der schließlich alle zustimmen. Vielleicht wird der 29. Mai aber auch als der Tag in die Geschichtsbücher eingehen, an dem nicht nur die Verfassung starb, sondern ebenso das gesamte europäische Projekt zu verfallen begann.

Dass beides möglich ist, Ende und Anfang, und auch alles dazwischen, dass in diesen Tagen sogar wieder von der D-Mark die Rede war, zeigt, wie fragil dieses Europa ist, wie verunsichert, wie ziellos, wie führungslos. Auch wie schnell all das, was in der Vergangenheit erreicht wurde, in Vergessenheit geraten kann.

Es ist kein guter Zeitpunkt für diese Erkenntnis. Gerhard Schröder, dessen politische Zukunft mehr als unsicher ist, wird dem europäischen Projekt keine entscheidenden Impulse mehr geben können, Silvio Berlusconi nicht, Jacques Chirac schon gar nicht, und Aleksander Kwasniewskis Amtszeit endet im Herbst. Europa ist nicht zuletzt deshalb in so schlechter Verfassung, weil die großen Mitgliedsländer unter einer nationalen Führungsschwäche leiden. Es fällt nun den skeptischen Briten zu, die am 1. Juli die EU-Ratspräsidentschaft übernehmen, Europa zu retten. Das ist bestenfalls ironisch.

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