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Politik: Wegzeichen für immer

Von Hermann Rudolph

Ist es zu viel? Kann es je genug sein? Es ist wahr, die Mediengesellschaft hat das Zeug, auch die mit der Befreiung von Auschwitz vor 60 Jahren verbundene Erinnerung an den Holocaust zum TrauerEvent werden zu lassen. Doch mit mildernden Umständen: Gäbe es denn irgendeine Art oder Menge von öffentlichen Äußerungen, von kollektiver Anstrengung, von Gedenkveranstaltungen oder Gedächtnisbeschwörungen, mit der eine Gesellschaft diesem Jahrtausendereignis, diesem singulären Zivilisationsbruch wirklich gerecht werden könnte?

Das Unvorstellbare, das in dem Wort Auschwitz Ereignis geworden ist, dieser Gewaltexzess von Versklavung, Deportation und Massenmord, bleibt das Problem des heutigen Gedenkens. Alles Reden überdeckt nur, dass man von ihm eigentlich nicht reden kann, und doch von ihm nicht schweigen darf. Denn gerade weil es Ziel der Nazis war, die Getöteten auszulöschen, dürfen sie – wie es Kurt Julius Goldstein, Ehrenpräsident des Internationalen Auschwitz-Komitees, denkwürdig ausdrückte – nicht vergessen werden, genauso wenig wie die Wahnsinnstat, der sie zum Opfer fielen. Und weil an diesem Ereignis nichts wieder gutzumachen ist, wird auch die Trauer über das Geschehene nicht enden können.

Man muss nicht erläutern, dass das alles in erster Linie für die Deutschen gilt. Sie stellten nicht nur die Täter und machten durch das NS-System die Tat möglich. Das Entsetzen über den Judenmord gehört auch zu den Vorgegebenheiten, die in die Grundfesten ihrer Nachkriegsexistenz eingegangen sind. Deshalb wird nichts Geringeres als eine der Grundlagen dieses Staates attackiert, wenn – wie durch die sächsische NPD geschehen – diese Trauer verweigert und der Begriff des Holocaust durch Missbrauch gezielt entwertet wird.

Zu den berühmt gewordenen Umschreibungen für die Erschütterung, die vom Holocaust ausgegangen ist, gehörte in der Nachkriegszeit der Satz des Philosophen Adorno: Nach Auschwitz könne man keine Gedichte mehr schreiben. Der heutige Gedenktag wirft die Frage auf, was für eine Geschichte es nach Auschwitz noch geben könne – wenn nicht eine, die auf Dauer im Bann dieses Ereignisses steht? Aber dieser Gedenktag ist ja selbst ein Datum, das darüber Antwort gibt. Ins Leben gerufen vor rund zehn Jahren, gab er dem Willen zu einer Politik Ausdruck, die der Wahrung der Menschenrechte weltweit zur Achtung verhelfen sollte. Entstanden einerseits unter dem Eindruck des stärker werdenden Bewusstseins von der Größe dieses Zivilisationsbruchs, andererseits unter dem der neuen Konflikte – vom Golfkrieg bis zum Kosovo –, sollte die Erinnerung an Auschwitz der neuen Weltlage einen moralisch unüberschreitbaren Halt geben.

Dass die Welt nach Auschwitz, Europäer und Amerikaner, aber auch die Deutschen, auf die Herausforderungen des letzten Halbjahrhunderts insgesamt akzeptable Antworten gegeben haben – jedenfalls gemessen an ihren Vorgängern –, ist eine Genugtuung, die vielleicht auch zu diesem 60. Jahrestag der Befreiung gehört. Ist es ein Zeichen dafür, dass die Welt aus Verbrechen und Versäumnissen lernen kann?

Nur: Es macht keinen der Millionen Getöteten lebendig, ändert nichts an den Qualen, die sie zu erleiden hatten, lässt keine der mit ihnen zerstörten Lebenswelten wieder auferstehen. Diese Erschütterung bleibt. An ihr führt für die Nachlebenden kein Weg vorbei. Das ist die ultimative Botschaft dieses Tages.

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