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Dennis J. Snower ist seit 2004 Präsident des Instituts für Weltwirtschaft in Kiel.

© Kai-Uwe Heinrich

Weltwirtschaft: „Wir haben aus dem Brexit und der Wahl von Trump gelernt“

Der Ökonom Dennis J. Snower vom Institut für Weltwirtschaft in Kiel über die Herausforderungen für die Weltwirtschaft, den G-20-Gipfel, Transparenz und das Treffen der einflussreichsten Think Tanks in Berlin.

Herr Professor Snower, Anfang Juli kommt es zum G-20-Gipfel in Hamburg. Wie sollten die Staats- und Regierungschefs vorgehen, um eine gemeinsame Perspektive einnehmen zu können?

Alle Teilnehmer müssen sich zunächst bewusst machen, wie weit die Weltwirtschaft integriert ist. Heute gibt es nur noch wenige Produkte oder Dienstleistungen, die allein in einem Land erbracht werden. Daraus ergeben sich Probleme, die ebenfalls über viele Staatsgrenzen hinaus bestehen: Klimawandel, Finanzkrisen, Terrorismus und viele andere. Das bedeutet, dass Staaten kooperieren müssen, wenn sie diese Probleme lösen wollen. Und dann müssen sich die G 20 fragen: Was sind die wichtigsten Bedürfnisse der Menschen? Und wie können wir diese befriedigen?

Ist es heute schwieriger oder leichter, diese ganz großen Fragen zu beantworten als vor zehn, 20 oder 30 Jahren?

Wohl schwieriger. Um das Jahr 1990 herum glaubten viele nach dem Zusammenbruch der UdSSR, dass sich Liberalismus in Form von Demokratie und Marktwirtschaft endgültig weltweit durchsetzen wird, und dass damit die ganz großen Probleme gelöst sind. Francis Fukuyama hat das Gefühl damals in seinem Aufsatz „End of History“ beschrieben. Das war aber eine Zeit, in der die Weltwirtschaft mit dem Sozialen noch recht gut verkoppelt war.

Und heute?

Heute haben sich Wirtschaft und Soziales weitgehend entkoppelt: Wir haben Umweltprobleme, die nicht unmittelbar mit Wirtschaftswachstum zusammenhängen. Wir haben größere soziale Ungleichheiten, Menschen fühlen sich entmächtigt, sie haben Angst davor, dass ihre Jobs von Robotern übernommen werden. Und sie fürchten die Zersetzung ihres sozialen Umfeldes – aus vielerlei Gründen.

Wollen die G 20 soziale Ungleichheit abbauen? Und könnten die das überhaupt?

Ungleichheit innerhalb von Ländern ist heute größer als Ungleichheit zwischen Ländern. Die Spitzen der G-20- Länder stellen fest, dass sie ähnliche Probleme mit der Ungleichheit haben. Es gibt ein wachsendes Bedürfnis, sich darüber auszutauschen. Auch, weil klar wird, dass die Instrumente der Fiskal- und Geldpolitik nicht ausreichen, um für Ausgleich zu sorgen. Man muss sich verstärkt über Strukturpolitik austauschen. Auch das haben wir gelernt durch den Brexit und die Wahl von Trump.

Was haben wir gelernt?

Dass man Themen wie Nachhaltigkeit, auf die sich auch die G 20 immer wieder konzentrieren, zu lange fast ausschließlich als wirtschaftliche Themen diskutiert hat. Dabei sind die Themen, die große Bevölkerungsschichten umtreiben, nicht ausschließlich wirtschaftlich. Es geht um die Sorge der Menschen, dass sich ihre Gesellschaft zersetzt. Wir müssen endlich zuhören und Antworten finden auf Fragen wie: Wir befähigt sind die Menschen, ihre Zukunft mitzugestalten? Wie sozial eingenistet sind sie? Zahlen zum Bruttosozialprodukt geben darauf keine befriedigende Antworten.

Wie finden 20 Länder einen kleinsten gemeinsamen Nenner?

Der muss nicht klein sein! Der Eindruck entsteht nur, weil sich viele Themen der G 20 um öffentliche Gemeinschaftsgüter drehen, bei denen es externalisierte Kosten gibt, die nicht durch Preise abgebildet werden. Wenn ein Land eine Lösung gegen Klimawandel findet, erneuerbare Energien zum Beispiel, trägt es in der Regel die Kosten, auch wenn alle den Nutzen davon haben. Dann führt die freie Marktwirtschaft zu ineffizienten Ergebnissen. Indem die G 20 diese Ineffizienzen durch multilaterale Abkommen beseitigen, müsste es möglich sein, zu einem Resultat zu kommen, das jedes Land besserstellt.

Oft scheint es, dass nationale Interessen bei G-20-Verhandlungen dominieren.

Die Bundesregierung handelt sehr wohl auch im Sinne der Weltgemeinschaft. Wie weit man damit kommt, muss man sehen. Deshalb ist es so wichtig zu vermitteln, dass das nationale Interesse oft in Einklang mit dem globalen Interesse gebracht werden kann. Es gibt aber ein größeres Verhandlungsproblem ...

Das wäre?

Bei den Klimaverhandlungen zum Beispiel ging es weniger um die Verteilung externalisierter Kosten oder Gewinne, sondern um Umverteilung des Wohlstands zukünftiger Generationen auf die heutige Generation. Wir sollten also bei allen Debatten nachdenken: Wo geht es uns tatsächlich um die Beseitigung externalisierter Effekte, mit denen die Marktwirtschaft allein nicht fertig wird? Und wo verteilen wir einfach nur um?

Was würde passieren, wenn die G 20 tatsächlich konkrete Beschlüsse fassen würden? Was wäre der nächste Schritt?

Wenn diese Entscheidungsprozesse transparent dargestellt werden, sollen die Zivilgesellschaften der G 20 und der restlichen Welt bewerten, ob die Beschlüsse zielführend sind. Wenn sie es nicht sind, müssen die ihre Stimme erheben und mitentscheiden. Für eine Begleitung solcher grundlegenden Gedanken haben Think Tanks einfach mehr Zeit als politische Entscheidungsträger, die von einem Termin zum nächsten eilen und nach ein paar Jahren abgewählt werden.

Da sehen Sie die Think Tanks in einer Schlüsselrolle. Haben die so viel Einfluss?

Die T 20 ist immerhin die einzige Gruppe im Rahmen der G 20, die keine eigenen Interessen vertritt. Die B 20 zum Beispiel vertritt die Interessen der Arbeitgeber; die L 20 die der Arbeitnehmer.

Und die W 20 vertreten die Interessen von Frauen. Das scheint doch aber legitim, da Frauen in den meisten Ländern strukturell und systematisch benachteiligt werden.

Ja, legitim ist es. Doch auch die W 20 vertreten eben Interessen. Mehrere unserer Studien über Digitalisierung im T-20-Prozess deuten darauf hin, dass die Zukunft den Frauen gehört. Sie haben in der zunehmend digitalisierten Welt, in der soziale Kompetenzen gefordert sind, einen riesigen Vorteil. Kognitive oder mechanische Arbeit, die bisher eher von Männern geleistet wird, erledigen zunehmend Maschinen. Das heißt: Man muss sich schon heute Gedanken darüber machen, wie man die Ausbildung besonders von Männern gestalten sollte. Derartige Überlegungen kann man sich schwer von einem W-20-Forum vorstellen, von den T 20 aber sehr wohl.

Sie organisieren den T-20-Kongress im Rahmen der deutschen G-20-Präsidentschaft Ende Mai in Berlin. Was möchten Sie in diesen zwei Tagen erreichen?

Zwei Dinge: Erstens möchten wir Probleme und Visionen darstellen, die es den G 20 ermöglichen, an einem Strang zu ziehen bei den großen Fragen der Wirtschafts- und Sozialpolitik. Ich glaube, das Thema Entkoppelung des wirtschaftlichen vom gesellschaftlichen Fortschritt ist dabei ein wichtiger Aspekt. Man wird in Zukunft von einer aktiven Arbeitsmarktpolitik zu einer befähigenden wechseln müssen. Der Wohlfahrtsstaat soll zum Befähigungsstaat werden. Wenn die G 20 in die Richtungen denken, kommt da vielleicht jeweils verschiedene Politik in verschiedenen Ländern heraus, aber es entsteht eine gemeinsame Richtung.

Was wollen Sie noch erreichen?

Diese ausgearbeiteten Visionen mit konkreten Lösungsvorschlägen zu verbinden: Dafür haben wir die T 20 umstrukturiert. Zum ersten Mal gab es zwölf Task Forces, also Arbeitsgruppen, die Policy Briefs, also Kurzdossiers, produziert haben – und zwar auf Gebieten, die der Agenda der deutschen G-20-Ratspräsidentschaft entsprechen. Wir werden die tiefgreifendsten Policy Briefs auswählen und am Ende „20 Lösungen für die G 20“ präsentieren. Die verschicken wir an die relevanten Entscheidungsträger der G 20. Und wir verfolgen, was davon umgesetzt wird. Dazu haben wir eine Internet-Plattform geschaffen, „G 20 Insights“, auf der man die Vorschläge eingebettet in den Kontext der G-20-Vereinbarungen findet. So haben es die Entscheidungsträger leicht zu schauen, wie etwas umgesetzt werden kann.

Klimawandel, Migration, Finanzmarktstabilität sind Themen, an denen Bundesregierungen schon seit Jahren intensiver arbeiten. Die Probleme sind dennoch eher größer als kleiner geworden. Ist die ganze Arbeit für die Katz?

Nein, welche Ideen vorankommen und welche nicht, hängt vom Timing und den Vorschlägen ab. Am Thema Klimawandel besteht nicht automatisch Interesse. Und in Trumps Amerika schon gar nicht, wenn Deutschland vorschlägt, Bereiche zu regulieren, in denen die USA bisher ein Monopol haben. Wenn man jedoch konkret bespricht, wie Klimawandel die Menschen einschränken könnte und wie man sie befähigt damit umzugehen, entsteht Gesprächsbereitschaft, auch in Trumps Amerika. Oder wenn man die Cyber-Bedrohungen benennt: Viele Krankenhäuser der westlichen Welt könnten lahmgelegt werden oder das Bankensystem, sodass man nicht mehr weiß, wer was besitzt und wer was wem schuldet. Dann wächst die Bereitschaft zu handeln.

Welche Themen interessieren Deutschland besonders?

Die Bundesregierung sucht nach neuen Ideen, etwa in der Migrationspolitik. Solange man nur darüber redet, wie man die Hilfsbedürftigen hier aufnimmt und versorgt, entsteht keine Produktivität. Man muss sie befähigen, sich einzubringen. Der Umgang mit der Türkei folgt bisher einer negativen Einstellung: Hier habt ihr soundso viel Geld, schafft uns das Problem vom Hals! Wenn die EU dagegen Sonderwirtschaftszonen in der Türkei fördern würde, in denen Flüchtlinge Arbeit finden, wäre das eine Win-win-win-Situation – für Flüchtlinge, weil sie in der Nähe ihrer Heimat arbeiten können, für die Türkei, weil ihre Wirtschaft dadurch stimuliert wird, und für die EU, weil die Beschäftigung der Flüchtlinge in der Türkei viel billiger als deren Integration in den Arbeitsmarkt in der EU ist.

Sie beschäftigen sich seit Jahrzehnten mit den größten Menschheitsproblemen. Wie bleiben Sie so optimistisch?

Wir leben in einer Welt, die sich rasch verändert. Man kann das als Bedrohung sehen, dann schließt man sich ein. Oder als Herausforderung und Kreativwerden. Ich habe das große Glück, mit tollen Kollegen und interessanten Leuten in aller Welt über kreative Ideen reden zu können. Lösungsvorschläge zu produzieren ist unsere Bringschuld gegenüber Menschen, die nicht so glücklich aufgewachsen sind.

Es würde aber auch Sie befriedigen, wenn Ideen auch mal umgesetzt werden, oder?

Ja. Anfang der 1980er Jahre war ich unter den Ersten, die sich Gedanken über eine aktive Arbeitsmarktpolitik gemacht haben als Alternative zur passiven Alimentierung der Arbeitslosigkeit. Damals galt ich als Spinner, der nicht weiß, wie das läuft. Inzwischen haben sich solche Ideen durchgesetzt. Es dauert manchmal eine Weile.

Sie sind in Wien geboren, haben in den USA und in Großbritannien als Ökonom gearbeitet. Seit 13 Jahren leiten Sie das Institut für Weltwirtschaft in Kiel. Worin unterscheidet sich der deutsche Blick auf die Weltwirtschaft und globale Probleme von der Perspektive anderer Nationen?

Das wäre eine längere Diskussion. Zu den großen Stärken der Deutschen gehört die Vergangenheitsbewältigung. Sie ringen mit ihrer Geschichte. Sie sprechen die Probleme direkt an. Sie arbeiten hart und sind pflichtbewusst. Das verschafft ihnen Respekt. Sie sind auch nicht, wie befürchtet, zum Hegemon geworden. Sie sind eine offene Gesellschaft, die anderen Ländern mit der sozialen Marktwirtschaft ein Modell anbietet. Ob die es annehmen, müssen sie selbst entscheiden.

Sie schildern uns Deutsche sehr sympathisch. Sind wir wirklich so weltoffen und auch offen für andere Sichtweisen, wie man das von einer großen Exportnation und einem Land in der Mitte Europas mit neun Nachbarstaaten erwarten könnte?

Auch Deutschland ist ein heterogenes Land. Nationale Klischees gelten ja immer nur für die Anderen. Manche Deutsche sind offen, manche denken geschlossen. Aber es gibt die Bereitschaft, auf andere zuzugehen. Und Deutschland ist wirtschaftlich erfolgreich, das macht es leichter.

Das Interview führten Kevin P. Hoffmann und Christoph von Marschall.

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