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Wende im Syrien-Konflikt: Chemiewaffenkontrolle - eine Herkulesaufgabe

Die internationale Gemeinschaft soll Zugang zu den syrischen Beständen an Chemiewaffen bekommen. Was ist Assads Einlenken wert?

In den Syrienkonflikt ist Bewegung gekommen. Staatschef Assad will nach der russischen Initiative seine Chemiewaffen internationaler Kontrolle unterstellen.

Ist ein militärischer Angriff auf Syrien nun vom Tisch?

Ginge es nach den Angriffsskeptikern auf dem Capitol Hill in Washington, dann müsste über einen Militärschlag gar nicht mehr gesprochen werden. Kaum war die Botschaft aus Moskau in der amerikanischen Hauptstadt am Montag angekommen, setzte hektische Geschäftigkeit auf den Fluren im Kongress ein. Ein für Mittwoch geplantes Verfahrensvotum im Senat wurde kurzfristig abgesetzt. Vor der kommenden Woche wird es – wenn überhaupt – im Senat deshalb keine Entscheidung über einen Einsatz in Syrien geben.

US-Präsident Barack Obama sollte sich am Dienstagnachmittag mit den Demokraten im Repräsentantenhaus treffen. Dort, wo die Front der Angriffsgegner noch viel größer ist als im Senat, wird nun zunächst erst gar keine Abstimmung angesetzt. Ein Angriff ohne Kongressvotum aber kann, nachdem der Präsident die Befassung des Parlaments beschlossen hatte, keine Option für die Obama-Administration sein – zumal neue Umfragen zeigen, dass die Ablehnung eines Syrieneinsatzes in der Bevölkerung weiter steigt.

War die auslösende Äußerung von US-Außenminister Kerry ein Lapsus oder wohlkalkulierte Taktik?

Der Medienfeldzug von Obama und seinem kompletten Stab geht nun in die zweite Woche. Obama selbst erwähnte in seiner wöchentlichen Radiobotschaft mit keiner Silbe ein Ultimatum an die Regierung in Damaskus, sein Stabschef talkte sich am Sonntag durch zahlreiche Fernsehkanäle, seine nationale Sicherheitsberaterin trat am Montag simultan mit John Kerry vor die Medien, und keiner forderte den syrischen Staatschef Baschar al Assad auf, sein Arsenal an chemischen Waffen der internationalen Gemeinschaft zu übergeben. Und dann antwortet Außenminister Kerry in London auf die Frage eines Journalisten, ob es noch einen Punkt gebe, an dem ein militärischer Angriff noch verhindert werden könnte. Ungewöhnlich schnell nachdem der Satz, dass dies nur denkbar sei, wenn Assad jegliche chemischen Waffen aushändigen würde, über Kerrys Lippen gekommen war, hieß es dann vom Außenministerium in Washington: „Alles rein rhetorisch“. Das spricht nicht für kalkulierte Diplomatie.

Welches Ausmaß haben Assads Chemiewaffenarsenale?

Erstmals im Juni 2012 räumte Assads Sprecher die Existenz dieser Waffen offiziell ein. 1968 war Syrien dem „Genfer Protokoll über das Verbot der Verwendung von erstickenden, giftigen oder ähnlichen Gasen sowie von biologischen Mitteln im Krieg“ aus dem Jahr 1925 beigetreten. Das internationale Chemiewaffenübereinkommen von 1993, das Entwicklung, Produktion, Lagerung und Besitz von Chemiewaffen verbietet, hat die Assad-Dynastie jedoch nie unterschrieben. Nach Einschätzung westlicher Geheimdienste gehören Syriens Giftgasvorräte zu den größten im Nahen Osten. Bisher bekannt sind vier Produktionsstätten nahe Aleppo, Homs, Hama und Latakia sowie drei Lager nahe Homs, Palmyra und Damaskus, wo sich auch das Chemiewaffenforschungszentrum befindet. Nach Angaben von Überläufern soll das Regime in letzter Zeit die meisten Kampfstoffe im alawitischen Kernland um Latakia sowie in der Umgebung von Damaskus konzentriert haben. Die Vorräte bestehen vor allem aus Senfgas, Sarin und dem Nervengift VX – insgesamt bis zu 1000 Tonnen, wie der französische Geheimdienst schätzt.

Die Anfänge des syrischen Giftgasprogrammes liegen in den 70er Jahren, als Ägypten vor dem Jom-Kippur-Krieg 1973 seinem Verbündeten Syrien kleinere Mengen an Chemiewaffen überließ. In den 80er Jahren baute Damaskus sein Arsenal kräftig aus, auch wenn es stets von ausländischen Technologieimporten und chemischen Rohstofffrachten abhängig blieb. Zunächst schickten die Sowjetunion und die Tschechoslowakei die Giftgasgeschosse. In den 90er Jahren beteiligten sich laut Wikileaks auch westliche Firmen aus den USA, Großbritannien, den Niederlanden und Australien an dem Geschäft mit dubiosen Rohstoffen.

Ist eine internationale Kontrolle der Chemiewaffen Assads überhaupt realistisch?

Der Chemiewaffenexperte und Toxikologe Ralf Trapp macht klar: „Eine Zerstörung der hochgefährlichen Waffen in Syrien ist keine Sache von einigen Wochen. Die Bestände ordnungsgemäß und sicher zu vernichten, dürfte einige Jahre dauern“, sagte Trapp dem Tagesspiegel. Nie zuvor hätten internationale Fachleute in einem Kriegsland Chemiewaffen in Empfang genommen und vernichtet. Trapp arbeitete lange für die Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OPCW) in Den Haag. Sie überwacht die Einhaltung der Antichemiewaffenkonvention von 1997 – OPCW-Inspekteure könnten laut Trapp die Vernichtung der syrischen Arsenale in die Wege leiten. Die OPCW äußerte sich aber zurückhaltend dazu.

Selbst die einstigen Hauptkontrahenten des Kalten Krieges, USA und Russland, werden noch ein weiteres Jahrzehnt brauchen, bis sie sämtliches Giftgas aus ihren Depots neutralisiert haben. 35 Milliarden Dollar haben die USA in den letzten 20 Jahren bereits ausgegeben, um ihr Arsenal in Hochtemperaturöfen unschädlich zu machen. Russland vernichtete bisher 54 Prozent seiner Bestände.

In Syrien müssten zunächst Zonen bestimmt werden, in denen Inspekteure die Waffen lagern und unschädlich machen. Im Idealfall könnten internationale Truppen diese Zonen sichern. UN-Generalsekretär Ban Ki Moon will den Sicherheitsrat dazu „drängen“, solche Zonen einzurichten. Ein schneller Beschluss ist aber eher unwahrscheinlich. Dann müssten Inspekteure alle Substanzen erfassen und abtransportieren – Voraussetzung dafür wäre eine volle Kooperation des Assad-Regimes. In einem weiteren Schritt müssten die Inspekteure die Waffen an sicheren Orten zwischenlagern – bis man mit der technisch komplizierten Vernichtung beginnen kann. Während der Lagerung könnten industrielle Spezialanlagen für die Vernichtung der Giftgase geplant werden. Die Syrer selbst sollten diese Einrichtungen nicht herstellen – man müsste alle Teile außerhalb Syriens produzieren und dann in das Konfliktland transportieren und dort zusammensetzen. Das Unschädlichmachen der syrischen Arsenale in Russland oder den USA hält Fachmann Trapp für nicht praktikabel.

Könnten Terrorgruppen noch auf die Chemiewaffenarsenale zugreifen?

Eine internationale Kontrolle der syrischen Chemiewaffen könnte nach Ansicht von Sicherheitskreisen die „abstrakte Gefahr“ erhöhen, dass Al Qaida angesichts der Präsenz auswärtiger Experten mitbekommt, wo sich Depots befinden. Und sollte es den Kämpfern der Terrorvereinigung gelingen, bei einem Angriff Behälter mit Giftstoffen zu erbeuten, wäre zumindest größere Panikmache zu befürchten. Sicherheitsexperten halten es allerdings für fraglich, dass die Terrororganisation über die Fähigkeit verfügt, Giftstoffe wie Sarin technisch so aufzubereiten, dass sie eingesetzt werden können. Bezweifelt wird auch, dass die auf der Seite Assads kämpfenden Islamisten der libanesischen Hisbollah in der Lage wären, die Chemiewaffen zu handhaben. In Sicherheitskreisen wird allerdings das Szenario diskutiert, das Regime könnte der Hisbollah Giftstoffe zukommen lassen. Experten betonen jedoch, viele Nachrichtendienste würden sehr genau beobachten, was sich bei den etwa 40 Giftstoffdepots der Streitkräfte Assads tut.

Wie reagiert die syrische Opposition?

Sie ist von Amerika enttäuscht. In seltener Einigkeit äußern sich die verschiedenen Rebellengruppen und Oppositionskräfte skeptisch, was die Kontrolle der Chemiewaffen für den weiteren Verlauf des Krieges bringen werde.

„Die Rebellen wissen, dass sie auf sich allein gestellt sind“, sagt Syrienexpertin Petra Becker von der Stiftung Wissenschaft und Politik. Es sei ein „weiteres Signal“ für sie, dass Washington von einem militärischen Schlag gegen Assads Regime absehe. Dass Assad in die Chemiewaffenkontrolle einwilligt, spiele ihm in die Hände: „Das syrische Regime hat so für seinen Krieg weiter Zeit gewonnen.“

Die Syrische Nationalkoalition, ein Zusammenschluss verschiedener Oppositionsgruppen im In- und Ausland, warnt daher vor weiterem Blutvergießen. Am Dienstag hat sie ein Statement veröffentlicht, in dem sie die Vermittlung durch Russland zwar begrüßt – und davor warnt, dass „das Regime Assads damit weitermacht, jede Art konventioneller Waffen gegen Frauen und Kinder einzusetzen“. Im Land selbst herrscht große Ermüdung, Zivilbevölkerung und Rebellen hoffen auf ein Ende des Krieges. Jedoch hat nur ein kleiner Teil der Opposition Interesse an Verhandlungen mit dem Regime.

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