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Beide Fahnen wehen vor dem Bundesverfassungsgericht am Tag des Urteils auf gleicher Höhe. Die europäische Finanzpolitik muss sich jedoch der Souveränität und dem Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland beugen.

© Sebastian Gollnow/dpa

Wer bestimmt über Europas Finanzen?: Die Bürger der Nationalstaaten, nicht ein imaginiertes europäisches Volk

Karlsruhe korrigiert den Europäischen Gerichtshof. Gut so. Der Süden verdient Hilfe, aber über die Höhe entscheidet der Bundestag, nicht die EZB. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Christoph von Marschall

Nun kommt es ganz dicke. All die Sorgen um die Gesundheit, die Wirtschaft, die Jobs und den Weg in eine berechenbare Zukunft werden durch ein explosives Urteil aus Karlsruhe nochmals verstärkt. Die Art, wie die Europäische Zentralbank (EZB) hochverschuldeten Euroländern geholfen hat – durch Ankauf ihrer Staatsanleihen im Billionenwert –, ist teilweise verfassungswidrig.

Das erhöht die Nervosität an den internationalen Finanzmärkten inmitten der Corona-Turbulenzen.

Harte Kritik an den europäischen Richtern

Haben die deutschen Verfassungsrichter das nicht bedacht? Wollen sie gar wie Brandbeschleuniger wirken? Beide Fragen kann man getrost verneinen. Die Karlsruher wollen aber schon erreichen, dass Europa zur Besinnung kommt. Das schließt die Kolleginnen und Kollegen am Europäischen Gerichtshof ein, die das Kaufprogramm 2018 gebilligt hatten und deren Argumentation die deutschen Verfassungsrichter in bemerkenswerter Konfliktbereitschaft „schlechterdings nicht mehr nachvollziehbar“ nennen.

Generell befürworten sie die europäische Integration und bemühen sich seit Jahren um eine großzügige Verfassungsauslegung, um sie zu ermöglichen. Sie wollen ihr keine juristischen Knüppel in den Weg legen.

Zwischen März 2015 und Ende 2018 hat die EZB unter ihrem damaligen Präsidenten Mario Draghi rund 2,6 Billionen Euro in Staatsanleihen und andere Wertpapiere investiert - den allergrößten Teil über das Programm PSPP, um das es in Karlsruhe ging.
Zwischen März 2015 und Ende 2018 hat die EZB unter ihrem damaligen Präsidenten Mario Draghi rund 2,6 Billionen Euro in Staatsanleihen und andere Wertpapiere investiert - den allergrößten Teil über das Programm PSPP, um das es in Karlsruhe ging.

© imago images/Xinhua

Die Finanzhoheit hat der Bundestag, nicht die EZB

Doch auch eine proeuropäische Politik muss sich an Recht und Verhältnismäßigkeit halten. Der Souverän sind hier und heute die Bürger der Nationalstaaten, nicht ein imaginiertes europäisches Volk. Die Finanzhoheit haben die nationalen Regierungen, nicht Brüssel oder die EZB.

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Das Urteil verschärft den Konflikt mit den EU-Partnern im Süden. Wer die Deutschen für doppelzüngige Lehrmeister hält, die am meisten von der Eurozone profitieren und den Käufern ihrer Waren Sparsamkeit predigen, sieht sich bestätigt. Es stimmt ja: Hilfe und Finanzausgleich sind nötig. Sie müssen aber transparent und rechtlich sauber erfolgen.

Deshalb sollten die Befürworter einer gemeinsamen Finanzierung der Eurozone mit gemeinsamer Schuldenhaftung offen dafür werben, die europäischen Verträge und das EZB-Statut zu ändern, statt zu erwarten, dass Richter mehr als nur ein Auge zudrücken. Auch das Grundgesetz wäre zu ändern. Das müsste ja gehen, sofern die Bürger und die Parteien in großer Mehrheit über diese Ziele einig wären. In Wahrheit gibt es diese Einigkeit jedoch nicht, weder in Deutschland noch in der EU.

Christine Lagarde, Draghi-Nachfolgerin als EZB-Chefin. Die aktuellen Hilfsprogramme der EZB und der EU haben die Richter in Karlsruhe nicht gestoppt.
Christine Lagarde, Draghi-Nachfolgerin als EZB-Chefin. Die aktuellen Hilfsprogramme der EZB und der EU haben die Richter in Karlsruhe nicht gestoppt.

© REUTERS

Deutschland muss genauer prüfen - oder die Hilfe beenden

Deshalb konnten die Richter in den roten Roben konnten gar nicht anders, als ihr „Bis hierher und nicht weiter“, das sie der Politik schon mehrmals warnend zugerufen hatten, zu bekräftigen. Dabei haben sie die scharfe Konfrontation mit der EZB vermieden, den Vorwurf indirekter Staatsfinanzierung verneint und Deutschland lediglich aufgetragen, die Finanzierung der Aufkäufe einzustellen, wenn die EZB nicht deren Verhältnismäßigkeit belegt.

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Die aktuellen Hilfsprogramme der EZB und der EU haben sie nicht gestoppt. Es ging um Anleihenkäufe in den Jahren 2015 bis 2018. Gleichwohl entfaltet das Urteil eine Bindewirkung, was die Bundesregierung jetzt und künftig in Europa mitmachen darf. Eine indirekte Finanzierung der Haushalte von Eurozone-Staaten ist verboten. Karlsruhe hat ein Auge darauf.

Das Urteil hat auch Folgen für die Corona-Hilfen

Und nun? Das Bundesverfassungsgericht kann nur Deutschland Vorgaben machen. Es kann der supranationalen EZB nicht in den Arm fallen und sie auch nicht auf Kurs zwingen.

Es hat Bundesregierung, Bundestag und Bundesbank Grenzen gesetzt – freilich mit praktischen Auswirkungen auf die Eurozone und die EU. Auch wenn Deutschland nur eines von 27 EU-Ländern ist und einer von 19 Staaten der Eurozone: Von hier stammt rund ein Viertel der Wirtschaftskraft der EU und annähernd ein Drittel des BIP der Eurozone.

Inwieweit diese Ressourcen über die vertraglichen Pflichten hinaus für Europa ausgegeben werden, entscheidet nach heutiger Rechtslage der Bundestag. Er hat die Budgethoheit. Dieses Souveränitätsrecht haben die Richter verteidigt. Unter dem Strich war dies ein guter, weil notwendiger Tag für Europa, auch wenn er eine explosive Lage verschärft. Was die Länder der EU und der Eurozone gemeinsam tun, muss sich auf das Recht stützen und darf ihm nicht davoneilen.

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