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Politik: Wer hat Angst vor Deutschland? (Leitartikel)

Als die Bilder vom Fall der Mauer um die Welt gingen, packte nicht nur die Deutschen die Rührung. Auch Franzosen, Briten, Polen, Amerikaner waren ergriffen.

Als die Bilder vom Fall der Mauer um die Welt gingen, packte nicht nur die Deutschen die Rührung. Auch Franzosen, Briten, Polen, Amerikaner waren ergriffen. In der Bundesrepublik ist die Euphorie vielerorts der Enttäuschung gewichen. Und im Ausland? Wie ist die Bilanz der zehn Jahre seit dem Herbst 1989 für Deutschlands Partner?

Dort war die Stimmung viel früher umgeschlagen, schon wenige Wochen nach der Nacht der Nächte. In dem Maße, in dem der Strom der Ereignisse die innere Reform der DDR hinter sich ließ und der Wiedervereinigung zustrebte, kehrten all die Befürchtungen wieder, die durch Kalten Krieg, Teilung und Vier-Mächte-Kontrolle über vier Jahrzehnte eingefroren waren. Würden nun die deutschen Ungewissheiten aufs Neue hervortreten, die Gefährdungen durch die Mittellage und das Gewicht Deutschlands in Europa? Fast ungeschminkt formulierte Großbritanniens "Eiserne Lady" ihren Argwohn, etwas verhaltener zeigten die Franzosen ihre Furcht vor deutscher Hegemonie. Kurzzeitig verirrte sich sogar die junge polnische Demokratie zu der Vorstellung, sie müsse die sowjetischen Truppen nicht zum Abzug bewegen, sondern als Faustpfand bis zur Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze im Land behalten. Nicht zu reden von jenen Deutschen selbst, die die Teilung als Strafe für Auschwitz begriffen und glaubten, der deutsche Dämon müsse von außen in Schach gehalten werden.

Kein Wunder - nach zwei Weltkriegen, die von Deutschland ausgingen und nach der Vernichtungspolitik des Dritten Reiches. Dann kommt es aber einem Wunder gleich, wo Deutschland heute steht: Erstmals seit Jahrhunderten leben die Deutschen in Eintracht mit allen Nachbarn, werden nicht verdächtigt, einen Partner gegen den anderen auszuspielen. Sie haben die Behauptung widerlegt, Kooperation mit Russland sei nur auf Kosten Polens zu haben - und umgekehrt. Französische und britische Kommentatoren ermuntern Deutschland heute, nationale Interessen offen zu vertreten. Mit deutschen Militäreinsätzen verbinden die Partner nicht Befürchtungen, sondern normale Lastenteilung. Deutschland ist für viele Völker zu einer Orientierungsmacht geworden, der man Vertrauen entgegenbringt, Führung zutraut, von der man wegweisende Lösungen erhofft.

Dass die Kassandra-Rufe des Winters 1989/90 nicht wahr wurden, dass das vereinte Deutschland Ansehen genießt, haben die Deutschen vor allem sich selbst zu verdanken. Den Grundstein für das Vertrauen in die vergrößerte Bundesrepublik hat Helmut Kohl gelegt. Ohne sein über Jahre gepflegtes persönliches Verhältnis zu George Bush, Michail Gorbatschow, François Mitterrand hätte er die Einheit nicht erreichen können. Aber er baute auf vorhandenen Fundamenten auf: Adenauers unbeirrbarer Politik der Westbindung; der Brandtschen Ost-Politik; der europäischen Einigung, die von allen Bundesregierungen aktiv betrieben wurde. Von diesem Vertrauenskapital, diesem Bonner Erbe profitiert die Berliner Republik.

Ist dieses Wunder den Deutschen bewusst? Ist es gar manchen schon wieder zu Kopf gestiegen? Ein deutsches Magazin titelt pünktlich zum Jahrestag mit neuen Gefahren durch die Weltmacht Deutschland und der Furcht, die sie in Europa verbreite. Das ist übertrieben, aber es verrät die Unsicherheit. Deutschlands Lage bleibt eine Herausforderung - und erst recht das Bild, das sich das Ausland davon macht: Es ist weniger gesichert, weniger krisenfest als die Wahrnehmung Frankreichs oder Großbritanniens. Jede neue Regierung, jede neue Generation muss sich das Vertrauen neu verdienen, im Westen, aber mehr noch in Osteuropa. Denn das Weltbild der Nachkriegs-Deutschen ist mehr, als sie sich eingestehen, von der Ost-West-Teilung geprägt.

Mitteleuropa, Osteuropa, ja selbst die direkten Nachbarn Polen und Tschechien sind den meisten Bundesbürgern als wichtiger Bezugspunkt noch immer fremd. Sie empfinden die neue deutsche Lage auch heute noch als seltsam anormal. Dabei ist es doch genau umgekehrt: Die Jahrzehnte vor 1989 waren es. Was wir seither erleben, ist Normalisierung. Vor der sollte niemand Angst haben. Weder die Deutschen noch ihre Partner in der Welt.

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