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Carola Rackete im sizilianischen Porto Empedocle, in das sie von Lampedusa aus gebracht wurde.

© Reuters

Update

Wer ist Carola Rackete?: Das erzählen Weggefährten über die „Sea-Watch“-Kapitänin

Gesetz oder Moral? Als Kapitän, sagt ihr Ausbilder, müsse man manchmal wählen. Carola Rackete hat ihre Entscheidung getroffen – mit allen Konsequenzen.

So angespannt wie am vergangenen Freitag habe er Carola Rackete noch nie erlebt, sagt Ruben Neugebauer. Als der Sprecher der Hilfsorganisation Sea-Watch mit der Kapitänin telefoniert, steht sie kurz vor einer Entscheidung, die ihr Leben dramatisch verändern könnte. Soll die 31-Jährige ihr Schiff, die „Sea-Watch 3“ mit 40 geflüchteten Menschen und 21 Crewmitgliedern an Bord, in den Hafen von Lampedusa steuern? Und damit riskieren, in Italien angeklagt und zu einer langen Haftstrafe verurteilt zu werden? 16 Tage lang hatte Rackete auf die Erlaubnis gewartet, einen EU-Hafen anlaufen zu dürfen, zwei Mal hatten gesundheitlich angeschlagene Flüchtlinge von Bord gehen dürfen.

Carola Rackete traf ihre Entscheidung. Sie stand unter Hausarrest. Nun ist sie frei, aber die Ermittlungen gegen sie dauern an. Wer ist diese Frau, die sich kurz bevor der vergangene Freitag zu Ende ging, auf der Schiffsbrücke vor eine Kamera setzte und mit matter Stimme sagte: „Hallo, es ist jetzt halb zwölf nachts auf der „Sea-Watch 3“ . Wir liegen immer noch außerhalb des Hafens von Lampedusa.“

Am Nachmittag habe die Staatsanwaltschaft Ermittlungen gegen sie eingeleitet und bekundet, „dass sie uns nicht helfen wird, die Geretteten von Bord zu holen. Nach wie vor warten wir auf eine Lösung, die sich leider nicht abzeichnet. Deswegen habe ich mich jetzt entschlossen, selbstständig im Hafen anzulegen. Wir bereiten gerade das Schiff vor.“ Sie gehe davon aus, „dass wir in etwa eineinhalb Stunden an der Pier liegen“.

Sie lenkte den Forschungseisbrecher

Aufgewachsen ist Rackete in Hambühren, einer kleinen Gemeinde im Landkreis Celle, 30 Kilometer nordöstlich von Hannover. Ihr Vater Ekkehart, 74, sagt am Telefon, er könne nicht erklären, wie genau sich seine Tochter politisiert habe, weshalb sie sich schließlich entschloss, in Not Geratene auf dem Mittelmeer zum Mittelpunkt ihres Lebens zu machen. In den vergangenen Jahren sei sie immer bloß für jeweils ein paar Tage nach Hause gekommen, dann sei sie gleich wieder aufgebrochen, „raus in die Weltgeschichte“, sagt er.

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Ekkehart Rackete war früher bei der Bundeswehr, wechselte später in die Rüstungsindustrie. Er sagt, er sei stolz auf seine Tochter und ihre Entschlossenheit, für das einzustehen, was ihr wichtig sei: „Sie weiß, was sie tut, sie ist eine starke Frau.“

Carola Rackete ist viel gereist in ihrem Leben. War in China, Pakistan, Lateinamerika, oft allein unterwegs, sechs Monate verbrachte sie auf der ostsibirischen Kamtschatka-Halbinsel. Mittlerweile spricht Rackete fünf Sprachen. Als Nautikerin lenkte sie die „Polarstern“, den Forschungseisbrecher des Bremer Alfred-Wegener-Instituts. Später steuerte Rackete die „RRS James Clark Ross“, das Schiff eines britischen Polarwissenschaftsprogramms. Monatelang war sie an Bord der „Arctic Sunrise“, die Greenpeace für Kampagnen und eigene Forschung nutzt. Im Mai 2016 schloss sie sich erstmals den Seenotrettern an.

Wellen, ein Fernglas, ein Rettungsring

In den Tagen der Odyssee hat sie mehrfach in kurzen Videos, die dann in die sozialen Netzwerke hochgeladen wurden, Stellung bezogen. Sie beschrieb die zunehmend verzweifelte Lage an Bord, beklagte das Nichthandeln der politisch Verantwortlichen. Zeit, sich mit den Kommentaren und Drohungen des italienischen Innenministers Matteo Salvini zu beschäftigen, habe sie keine – sie müsse mehrere Dutzend erschöpfte Menschen an Land bringen.

Mitstreiter sagen, die Videos habe sie aufgenommen, weil sie darum gebeten worden sei, auch von den Geretteten an Bord selbst. Rackete sei keine, die gern in der Öffentlichkeit stehe, sie besitzt nicht mal einen Facebook-Account. Keinesfalls sei sie eine Selbstdarstellerin. „Europa hat uns im Stich gelassen“, sagte sie in einem Interview, kurz vor ihrer Einfahrt. Wochenlang hätten sich EU-Kommission und Nationalstaaten vor ihrer Verantwortung gedrückt, das enttäusche sie, das mache wütend. Und dann sagt Carola Rackete noch: „Alles muss man selbst machen.“

Ruben Neugebauer (rechts) von Sea-Watch auf der dienstäglichen Pressekonferenz in Berlin.
Ruben Neugebauer (rechts) von Sea-Watch auf der dienstäglichen Pressekonferenz in Berlin.

© Christoph Soeder/dpa/AFP

Am Dienstagvormittag hat Sea-Watch zu einer Pressekonferenz ins Kino International nahe dem Berliner Alexanderplatz geladen. Ein Dutzend Kameras sind auf das Podium gerichtet, wo Ruben Neugebauer neben einer Sea-Watch-Kollegin und einem Kollegen sitzt. Alle drei tragen schwarze T-Shirts mit dem Logo der Organisation: Wellen, ein Fernglas, ein Rettungsring.

„Wir gehen davon aus, dass gegen uns eigentlich nichts vorliegt“, sagt Neugebauer, man sei zuversichtlich, dass Rackete bald freigelassen werde und auch das beschlagnahmte Schiff wieder freikomme. Schuld an der Situation im Hafen von Lampedusa, an der Konfrontation zwischen den Seenotrettern und den italienischen Behörden, „ist natürlich in erster Linie Matteo Salvini“.

24 Stunden am Tag „Suicide-Watch“

An Bord habe eine Notsituation vorgelegen, der psychische Druck auf Geflüchtete und Mannschaft sei täglich gestiegen. Die Crew habe 24 Stunden am Tag „Suicide-Watch“ halten müssen, Selbstmordwache. Ruben Neugebauer sagt, die Situation, in der sich Carola Rackete befand, sei vergleichbar gewesen mit einem Krankenwagen, „der nach einem Verkehrsunfall an der Schranke eines Krankenhauses steht“. Und dann werde erst mal darüber diskutiert, welche Krankenkasse zahlt.

[Mehr zum Thema: Hetze gegen Ausländer, Faschisten marschieren – Italien ist kaum wiederzuerkennen]

Ihr Nautikstudium – später machte Rackete in England einen Studienabschluss in „Conservation Management“ – hat Rackete an der Jade-Hochschule im niedersächsischen Elsfleth absolviert. Einer, der sie dort bis zu ihrem Abschluss im Jahr 2011 unterrichtet hat, ist Studiendekan Christoph Wand, Fachbereich Seefahrt und Logistik. Wand sagt, als Kapitän stehe man manchmal im Dilemma zwischen einer möglichen legalen Entscheidung und einer möglichen moralischen Entscheidung aus Fürsorge für die Menschen an Bord.

Carola Rackete nach dem Erscheinen vor einem Richter in Agrigento.
Carola Rackete nach dem Erscheinen vor einem Richter in Agrigento.

© Giovanni Isolino/AFP

„So, wie ich sie kennengelernt habe, bin ich mir ganz sicher, dass sie nach bestem Wissen und Gewissen entschieden hat.“ Unter Abwägung aller Alternativen. Wer hier die Schuld trägt, ist für Racketes ehemaligen Dozenten klar: „Das Problem ist, dass die EU versagt und ihre Hausaufgaben nicht macht und dadurch solche Entscheidungen Einzelpersonen überlässt.“

Ruben Neugebauer sagt, in der EU sei man „wunderbar darin, sich herauszureden und mit Fingern auf andere zu zeigen“. Fast ein Jahr sei es inzwischen her, dass Salvini erstmals einem Rettungsschiff die Einfahrt in einen italienischen Hafen verweigert habe. Momentan kämen nur wenige Geflüchtete über das Mittelmeer, wenn Deutschland als eines der reichsten Länder der EU für diese Menschen keine Lösung fände, sei das „wirklich, wirklich beschämend“. Er spricht von einer „Sündenbockpolitik“, einer „Politik des Sterben-Lassens“ im Mittelmeer.

Eingekeilt zwischen „Sea-Watch 3“ und Kaimauer

Die Elsflether Hochschule hat eine Stellungnahme veröffentlicht: „Carola Rackete hat die Verantwortung für das Wohl und die Gesundheit der an Bord befindlichen Menschen übernommen.“

Die Entscheidung: Zum ersten Mal erzwingt sich ein Rettungsschiff den Zugang zu einem Hafen. Italien versteht das als aggressiven Akt und verweist auf ein Polizeiboot, das bei dem Manöver „berührt“ worden sei. Tatsächlich zeigen Videoaufnahmen der nächtlichen Aktion, dass ein Motorboot der Küstenwache zwischen „Sea-Watch 3“ und Kaimauer eingekeilt zu werden droht, als das 50 Meter lange ehemalige Arbeitsschiff anzulegen versucht. Die Polizisten erkennen, dass sie mit ihrem kleinen Gefährt nichts ausrichten können, und versuchen, durch die schmaler werdende Lücke zu entkommen. Dabei wird es kurz angerempelt, kommt aber wieder frei.

[Mehr zum Thema: Warum die Reaktionen im Fall Rackete heuchlerisch sind]

„Das Schiff ist 700 Tonnen schwer, extrem träge“, sagt Neugebauer dazu. „Das Schnellboot der Guardia di Finanza ist extrem manövrierfähig. Carola hat das Manöver mit absoluter Minimalgeschwindigkeit gefahren. Das Einzige, was passiert ist, ist, dass sie dieses Boot leicht touchiert hat.“ Weil das Boot der Finanzpolizei „gepennt“ habe „und nicht weggefahren ist. Wenn da jemand etwas zu verantworten hat, dann ist es sicher nicht Carola“.

Gefoltert und vergewaltigt

Racketes Kritiker sagen: Sie hätte den nächstgelegenen libyschen Hafen ansteuern müssen. Rackete hat das abgelehnt. Ihre Aufgabe als Kapitänin sei es, Gerettete in Sicherheit zu bringen, nicht in neue Lebensgefahr. „Ärzte ohne Grenzen“ berichtet seit Jahren, dass Flüchtlinge in Libyen in Lagern interniert, dort gefoltert und vergewaltigt werden. Die Hilfsorganisation hat schwere Verstümmelungen dokumentiert. Überlebende berichten, dass Insassen gezwungen wurden, sich zur Unterhaltung der Wärter gegenseitig umzubringen. Für Carola Rackete wäre ein Anlegen im Hafen von Tripolis Verrat gewesen.

Glaubt man dem, was Freunde, Familie und Mitstreiter übereinstimmend berichten, ist Carola Rackete eine vernünftige Frau. Keine, die sich in Abenteuer stürzt, ohne vorher abzuwägen. Schon gar keine, die Lust verspürt, sich als Rebellin zu inszenieren. Die treibende Kraft, die sie aufs Mittelmeer und schließlich in den Hafen von Lampedusa führte, sei das Gefühl eigener Verantwortung. Weil es ihr selbst gut gehe, weil sie privilegiert sei, als Deutsche, als Weiße, als eine, die die Annehmlichkeiten und Freiheiten – die vielen Reisen zum Beispiel – der sogenannten Ersten Welt genießen dürfe.

Am Dienstag wird die von den italienischen Behörden beschlagnahmte „Sea-Watch 3“ von Lampedusa nach Licata auf Sizilien überführt. Die verbliebenen Crewmitglieder, so erzählt es Ruben Neugebauer, nahmen während der Fahrt mehrere Funksprüche auf: Tunesische und italienische Fischer hätten gemeldet, auf Flüchtlingsboote gestoßen zu sein.

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