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West-Pharmafirmen ließen Medikamente in der DDR testen: Das Risiko der anderen

In der DDR wurden im Auftrag westlicher Pharmakonzerne in den 80er Jahren zahlreiche Medikamententests an ahnungslosen Patienten durchgeführt. Was ist damals passiert?

Ein westliches Unternehmen lässt Waren in der DDR herstellen und schert sich nicht um die unmoralischen Produktionsbedingungen – dieses Prinzip hatte man bisher mit dem Namen Ikea verbunden. Vor wenigen Wochen war eine Studie über Haftzwangsarbeit in der DDR für den schwedischen Möbelkonzern vorgestellt worden. Der Fall Ikea sei aber nicht mehr als die „Spitze des Eisbergs“, sagte der Bundesbeauftragte für die Stasiunterlagen, Roland Jahn, als der Einsatz von Gefangenen bekannt wurde. Schließlich hätten zahlreiche westdeutsche Unternehmen undurchsichtige Geschäftsbeziehungen mit der DDR unterhalten. Ein neues, erschreckendes Kapitel über diese Geschäfte ist nun aufgetaucht. Bis vor kurzem unentdeckte Akten aus dem DDR-Gesundheitsministerium belegen, dass westliche Pharmaunternehmen Medikamente an ostdeutschen Patienten testen ließen, bevor sie sie auf den westdeutschen Markt brachten. Die Studien waren teilweise geheim, die DDR-Patienten dachten, sie würden klassisch behandelt. Dass an ihnen noch nicht marktreife Medikamente aus dem Westen ausprobiert wurden, wussten sie nicht.

Was ist bisher über Studien mit westlichen Medikamenten in der DDR bekannt?

Wie aus Akten des DDR-Gesundheitsministeriums hervorgeht, entwickelte sich die DDR in den 80er Jahren zu einem regelrechten Testlabor für westliche Pharmakonzerne. Mehr als fünfzig Firmen gaben zwischen 1983 und 1989 Medikamentenstudien in Auftrag, die anschließend DDR-Ärzte in ostdeutschen Krankenhäusern durchführten. Eine entsprechende Liste aus dem Bundesarchiv, das die DDR-Unterlagen aufbewahrt, liegt dem Tagesspiegel vor. Auf ihr stehen viele große, in Deutschland operierende Pharmafirmen oder deren Vorgänger, wie die inzwischen zusammengehörenden Konzerne Bayer und Schering, Hoechst (heute Sanofi), Boehringer Ingelheim oder Gödecke (heute Pfizer). Insgesamt gab es mindestens 165 Studien zu vielen verschiedenen Wirkstoffen, allerdings erhebt die Liste keinen Anspruch auf Vollständigkeit. An den Studien nahmen in der Regel hundert oder mehr Probanden teil, insgesamt also mehrere tausend DDR-Bürger.

Wie erging es den an den Studien beteiligten Patienten?

Laut Recherchen eines Fernsehteams des Mitteldeutschen Rundfunks (MDR) wurde zumindest ein Teil der Probanden nicht über die Medikamentenstudien informiert. Der damals 60-jährige Gerhard Lehrer etwa kam 1989 mit einem Herzinfarkt auf die Intensivstation eines DDR-Krankenhauses in Dresden. Ein Oberarzt verschrieb ihm Tabletten und erklärte, die Medikamente seien etwas ganz Besonderes, es gebe sie nur bei ihm und nicht in der Apotheke. So erinnert sich seine Ehefrau Annelise. Als Gerhard Lehrer die Kapseln einnimmt, verschlechtert sich sein Zustand immer weiter. Knapp zwei Jahre später verstirbt er an seiner Herzkrankheit. „Er wurde das Gefühl nicht los, dass der Grund für die Verschlechterung die Tabletten waren“, sagt Annelise Lehrer. Sie bewahrte einige Pillen auf. Diese unterzogen MDR-Journalisten später einem Labortest, bei dem sie sich als Placebos aus einer Studie entpuppten, die der Frankfurter Pharmakonzern Hoechst in Auftrag gegeben hatte. Ohne sein Wissen hatte der herzkranke Lehrer also statt Medikamenten ein wirkungsloses Scheinpräparat bekommen.

Ähnlich ist der Fall des ebenfalls herzkranken Hubert Bruchmüller. An ihm wurde in einem Magdeburger Krankenhaus das Medikament Spirapril des Schweizer Pharmakonzerns Sandoz (heute Novartis) getestet – ohne dass Bruchmüller davon wusste. Laut MDR-Recherchen starben während der Spirapril-Studie in dem Magdeburger Krankenhaus sechs von 17 getesteten Patienten, bis die Ärzte gestoppt wurden. Der Tagesspiegel hat weitere Unterlagen zu den Pharmastudien der westlichen Konzerne eingesehen. Immer wieder sind Todesfälle vermerkt oder Verschlechterungen des Zustands der Patienten. Einige weigerten sich nach einigen Wochen, die Medikamente weiter einzunehmen.

Die DDR profitierte finanziell von den Aufträgen

Wie viele Patienten wussten nicht, dass an ihnen West-Medikamente getestet wurden?

Wie viele Patienten nicht aufgeklärt wurden, lässt sich aus heutiger Sicht schwer sagen. Der Tagesspiegel hat insgesamt Kenntnis von sieben Betroffenen, ob dies allerdings Einzelfälle sind, ist unklar. Fakt ist, dass sich in den vorliegenden Akten des DDR-Gesundheitsministeriums keine Einverständniserklärungen der Probanden befinden, die ihre Aufklärung belegen würden. Auch in den Krankenhausarchiven und bei den Pharmafirmen sind solche Einwilligungen nach MDR-Recherchen nicht aufgetaucht. Der frühere DDR-Mediziner Jürgen Kleditzsch, in der Übergangsphase 1990 Gesundheitsminister, glaubt dennoch nicht an eine systematische Täuschung der Patienten. „Bei uns wurden die Studienteilnehmer grundsätzlich und umfassend aufgeklärt, wir haben alles besprochen und es gab schriftliche Einwilligungen“, sagt der Arzt, der von 1974 bis 1989 an der Medizinischen Akademie in Dresden tätig war. Auch als Gesundheitsminister habe er nichts von den geheimen Pillentests gewusst. „Das hätte ich sofort unterbunden.“ Auch Anfragen bei den beteiligten Pharmakonzernen bringen keine Klarheit. Unisono teilen sie mit, die Studien seien unter Einhaltung der damaligen Standards erfolgt. Diese sind klar definiert: Sowohl in der DDR als auch in der Bundesrepublik schrieben die Arzneimittelgesetze die Aufklärung und die schriftliche Einwilligung der Teilnehmer an Medikamentenstudien vor. Wie Akten aus dem DDR-Gesundheitsministerium belegen, haben manche der westlichen Pharmaunternehmen in den Verträgen mit der DDR darauf hingewiesen, dass die gesetzlichen Vorschriften einzuhalten seien. Keine Firma kann jedoch bestätigen, in den 80er Jahren Kontrolleure in die DDR entsandt zu haben, die die Einhaltung dieser Vorschriften überprüften.

Wie kam es zu den Aufträgen der westlichen Pharmakonzerne in der DDR?

Im Wesentlichen gab es zwei Gründe für die teilweise geheimen Medikamententests. Der erste: Die DDR brauchte dringend Geld. Die wirtschaftliche Lage des SED-Staats war Anfang der 1980er Jahre desolat. 1982 drohte sogar der Staatsbankrott, der nur durch einen Milliardenkredit der Bundesrepublik verhindert werden konnte. Der CSU-Politiker Franz-Josef Strauß fädelte ihn damals ein. Doch auch nach der Finanzspritze aus Westdeutschland brauchte die DDR weiterhin dringend Devisen, und mit den Aufträgen der westlichen Pharmakonzerne ließen sie sich erwirtschaften. Wie die Akten des Ministeriums für Gesundheitswesen belegen, zahlten die Pharmafirmen pro vollständig ausgefüllten Patienten-Testbogen Summen von bis zu 4000 D-Mark, für einzelne Studien flossen so bis zu 860 000 D-Mark an die DDR. Wie viel Geld der sozialistische Staat insgesamt mit den Pharma-Aufträgen aus dem Westen verdient hat, lässt sich nicht genau beziffern. Angesichts der Zahl von mindestens 165 klinischen Studien kann aber von einem höheren zweistelligen Millionenbetrag ausgegangen werden.

Doch nicht nur die DDR profitierte von den Aufträgen. Ab Anfang der 1980er Jahre – dies ist der zweite Grund für die Pillentests in der DDR – waren die in Westdeutschland operierenden Pharmakonzerne zunehmend darauf bedacht, ihre Medikamentenstudien in anderen Ländern durchzuführen. Dies lag am verschärften Arzneimittelgesetz der Bundesrepublik, das 1978 als späte Reaktion auf den Contergan-Skandal in Kraft trat. Contergan, das Beruhigungsmittel der Firma Grünenthal, hatte Anfang der 1960er Jahre dazu geführt, dass tausende Kinder mit schweren Fehlbildungen und Verkrüppelungen geboren wurden. Das neue Arzneimittelgesetz verpflichtete die Pharmafirmen ab 1978 erstmals zu umfangreichen Tests ihrer Präparate an großen Patientengruppen, bevor sie sie auf den westdeutschen Markt bringen durften. Die Suche nach bereitwilligen Probanden und Ärzten in Westdeutschland gestaltete sich allerdings schwierig. Daher schauten sich die Pharmakonzerne im Ausland nach alternativen Testmöglichkeiten um. In der finanziell klammen DDR wurden sie fündig. Im SED-Jargon nannte man das Geschäft mit den Pharmastudien „immateriellen Export“, wie der Pharmahistoriker Christoph Friedrich berichtet.

Die Bundesrepublik wusste offenbar von den Versuchen

Was wussten westdeutsche Politiker von den dubiosen Pharmageschäften mit der DDR?

Die offizielle Antwort darauf lautet: nichts. In einem MDR-Interview äußerte Rita Süssmuth, 1985 bis 1988 Bundesgesundheitsministerin, ihr seien die Tests gänzlich unbekannt gewesen. Ähnlich äußert sich auf Tagesspiegel-Anfrage Dieter Großklaus, ab 1985 Präsident des für die Zulassung von Arzneimitteln zuständigen Bundesgesundheitsamts: „Offiziell habe ich nichts von Pharmastudien in der DDR gewusst. Mehr kann ich Ihnen dazu nicht sagen.“ Eine damalige Mitarbeiterin der Behörde bestätigt das. Der Grund sei, dass es in den 80ern keine Registrierungspflicht für klinische Studien gegeben habe. Dennoch gibt es Indizien, die eine Mitwisserschaft des Westens nahelegen. So teilt etwa die Arzneimittelfirma Braun Melsungen mit, ihre Studien in der DDR seien „mit Einverständnis der damaligen Gesundheitsbehörden beider Länder“, das heißt, sowohl der DDR als auch der Bundesrepublik Deutschland, durchgeführt worden. Und der frühere DDR-Gesundheitsminister Jürgen Kleditzsch bestätigt, dass es inoffizielle Kontakte zu Gesundheitsministerium und Gesundheitsamt der Bundesrepublik gegeben habe. Er vermutet: „Wenn die Pharmakonzerne von West-Behörden gefragt wurden, wo sie Studien durchführen ließen, dann mussten sie sicherlich Rede und Antwort stehen.“ Dies muss allerdings nicht bedeuten, dass der Westen auch wusste, dass die Studien vor den teilnehmenden Patienten teilweise verheimlicht wurden.

Welche Reaktionen hat das Bekanntwerden der Studien ausgelöst?

Angesichts der teilweise geheimen Pharmastudien sind DDR-Experten zwar entsetzt, aber nicht überrascht. „Immer wieder kommen neue Vorgänge aus der DDR ans Licht, von denen man denkt: Das kann nicht wahr sein“, sagte Roland Jahn dem Tagesspiegel. Der Bundesbeauftragte für die Stasiunterlagen kritisierte, die Patienten seien von den DDR-Oberen rücksichtslos zum Geldverdienen ausgenutzt worden. Er rief die Pharmakonzerne dazu auf, die Vorgänge aus den 1980er Jahren aufzuklären. Dies forderte auch die Geschäftsführerin der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, Anna Kaminsky. „Die Pharmastudien zeigen einmal mehr, wie viel Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit noch notwendig ist.“ Über die innerdeutschen Geschäftsbeziehungen zur Zeit der Teilung wisse man „noch immer erschreckend wenig“. Für sie sind die Pillentests an unwissenden Patienten nach dem Mauerbau, verschiedenen Dopingfällen und Medizinskandalen „ein weiterer Beleg dafür, dass die DDR sich angemaßt hat, rücksichtslos über das gesamte Leben ihrer Bürger zu verfügen“.

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