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In der Nacht zu Freitag brannte es in den Straßen von Beirut.

© Julius Geiler

„WhatsApp-Steuer“ als Auslöser: Libanon erlebt die größten Proteste seit Jahren

Erst ging es um eine einzelne Steuer. Dann entlud sich im Libanon der angestaute Frust über die desolate Wirtschaftslage.

Es begann mit ein paar dutzend Demonstrierenden am Donnerstagabend. Der Muezzin hatte gerade zum Sonnenuntergangs-Gebet gerufen, als ein kleiner Pulk von circa 50 Personen einen Protestzug durch „Downtown“-Beirut startete, dem Regierungsviertel der libanesischen Hauptstadt. 

Im Laufe der Nacht wuchs die Demonstration um Tausende Menschen an. Durch soziale Netzwerke, wie Twitter und Facebook, verbreitete sich die Nachricht von den regierungskritischen Protesten wie ein Lauffeuer. Innerhalb von wenigen Stunden entstanden spontane Massendemonstrationen im ganzen Land, vom nördlichen Tripoli bis zum südlichen Tyros.

Die Hauptstadt Beirut war gegen Mitternacht kaum mehr mit dem Auto zu erreichen. Alle großen und kleinen Zugangsstraßen waren durch Blockaden unpassierbar. Brennende Reifen und Müllcontainer prägten das Stadtbild.

Proteste gegen die Regierung sind im kleinen Libanon an sich nicht ungewöhnlich. Nur fallen diese in der Regel sehr viel geringfügiger aus und sind gegen spätestens Mitternacht auch schon wieder vorbei. Am Donnerstagabend kam es anders.

Auf Fernsehbildern des libanesischen Senders LBCI TV ist zu sehen, wie noch um drei Uhr nachts Tausende Demonstranten auf dem zentralen Beiruter „Märtyrerplatz“ versuchen, dass Regierungsviertel zu stürmen. Polizei und Militär reagieren mit Tränengas, Wasserwerfern und Gummigeschossen.

Angesichts der schweren Brände gab es viel Kritik an der Regierung

Als Auslöser der Proteste gilt vor allem eine von der Regierung ursprünglich geplante „WhatsApp-Steuer", die vorsah, die Nutzung des Messengerdienstes „WhatsApp“ auf sechs US-Dollar pro Monat zu besteuern.

Der 39-jährige Abbas, der mit seinen Freunden vor einer brennenden Barrikade im Zentrum Beiruts protestiert, sagt, dass sei nur der letzte Tropfen gewesen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat: „Wir gehen auf die Straße, um die Regierung zu stürzen. Das komplette Kabinett muss zurücktreten. Es geht nicht nur um WhatsApp, das ganze System ist korrupt. Endlich wacht der Libanon auf. Junge und alte, Muslime und Christen wollen gemeinsam einen Wandel schaffen.“

Die Ankündigung der „WhatsApp-Steuer" kommt am Donnerstag für viele Libanesen zur Unzeit. Seit diesem Montag kämpft das Land gegen schwere Waldbrände. Eine für Oktober ungewöhnlich, intensive Hitzewelle in Kombinationen mit starken Winden und vermuteter Brandstiftung gelten als Auslöser.

Das Krisenmanagement der Regierung angesichts der Brände war von Beginn an schwerer Kritik ausgesetzt. Nur mit internationaler Hilfe und Löschflugzeugen aus Zypern und Jordanien konnten die Brände zumindest teilweise eingedämmt werden.  Darüber hinaus befinden sich drei, 2009 eigens angeschaffte und auf die Brandbekämpfung spezialisierte Helikopter seit fünf Jahren in Reparatur. Das zuständige Ministerium hat es bis heute versäumt sich, um benötigte Ersatzteile zu kümmern. 

Demonstranten in Sidon schwenken die Landesfahne mit der Zeder.
Demonstranten in Sidon schwenken die Landesfahne mit der Zeder.

© Mahmoud Zayyat/AFP

Während der Libanon mittlerweile seit Jahren mit einer schweren Wirtschaftskrise zu kämpfen hat, machte der libanesische Premierminister Saad Hariri vor zwei Wochen mit einer Überweisung von 16 Millionen US-Dollar an ein südafrikanisches Model von sich reden. Das Geld stammt zwar aus den privaten Mitteln Hariris, dennoch ist bis heute ungeklärt was der Hintergrund des plötzlichen Geldsegens für das Model ist.

Mit einer Staatsverschuldung von 86 Milliarden US-Dollar und einer Schuldenquote von 150 Prozent gehört der östliche Mittelmeerstaat zu den Ländern, mit der höchsten Schuldenquote weltweit, nicht weit entfernt von der Staatsverschuldung Venezuelas. Demenstprechend reagieren viele Libanesen mit großen Unverständnis auf die Finanztransaktionen ihres Premierministers.

Saad Hariri, libanesischer Ministerpräsident, wollte am Freitagabend eine Rede an das Volk halten.
Saad Hariri, libanesischer Ministerpräsident, wollte am Freitagabend eine Rede an das Volk halten.

© Mohamed Azakir/Reuters

Am Freitagmorgen kündigte die Regierung als Reaktion auf die Massenproteste an, die geplante „WhatsApp-Steuer" zurückzunehmen. Die Demonstrationen gehen trotz dieses Rückzugs am Freitag uneingeschränkt weiter. Durch die Straßen der Hauptstadt hallt der Ruf „Thawra“, arabisch für „Revolution“. Die   Universitäten, Schulen, Banken und viele Geschäfte bleiben am Freitag geschlossen. Die Autobahn zum einzigen Flughafen des Libanons ist blockiert. Auf Twitter kursieren Bilder von Reisenden mit Rollkoffern, die sich durch Blockaden aus brennenden Autoreifen auf dem Flughafenzubringer kämpfen, um ihre Flüge zu erreichen.

Über der Hauptstadt stehen den ganzen Tag dicke Rauchwolken. Immer wieder kommt es zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Militär und Demonstranten, wenn die Streitkräfte versuchen blockierte Hauptverkehrsachsen zu räumen. Aus allen Landesteilen werden Ausschreitungen gemeldet. Nach Behördenangaben gibt es Hunderte Verletzten auf beiden Seiten.

Eine Ansprache an das libanesische Volk wird von Premierminister Hariri nach Medienberichten zum frühen Abend erwartet.

Unterdessen hat   das Auswärtige Amt seine Reisewarnungen für den Libanon aktualisiert. Es wird dazu aufgerufen, größere Menschenansammlungen zu vermeiden und den Anweisungen der Sicherheitskräfte unbedingt Folge zu leisten. Deutschen Staatsbürgern im Libanon wird geraten, die lokalen Nachrichten aufmerksam zu verfolgen und sich auf der Online-Präsenz der Deutschen Botschaft mit Namen und Kontaktdaten registrieren zu lassen. Dem Libanon steht eine weitere Nacht des Protests bevor.

Julius Geiler

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