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Politik: Wider alle Vernunft

Von Malte Lehming

Je länger der Nationalsozialismus zurückliegt, desto energischer wird er bekämpft. Je länger der Holocaust zurückliegt, desto umfassender wird der Opfer gedacht. Kampf wie Gedenken entstammen ehrenvollen Motiven. Doch das „Nie wieder!“, das ihnen entspringt und von Jahr zu Jahr lauter tönt, kann taub machen. Intensität schreckt auch ab. Das maßloseste aller Verbrechen hat uns das Maß für eine angemessene Erinnerung geraubt.

Heute jährt sich zum 62. Mal die Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz. Vor elf Jahren wurde dieses Datum in Deutschland zum Gedenktag an die NS-Opfer erklärt. Vor zwei Jahren wurde daraus durch UN-Initiative der Welttag für die Opfer des Holocaust. Nun sind von Island bis Malawi, Thailand bis Sri Lanka alle 192 Staaten aufgefordert, die „Erinnerung an diese Tragödie an künftige Generationen“ zu vermitteln.

Ein anderes Beispiel hat ebenfalls Schule gemacht: Die Leugnung des Holocaust wird in immer mehr Staaten bestraft. Die Bundesregierung will es gar in ganz Europa verbieten lassen. Und vor wenigen Tagen haben die USA – ein Land, das die Meinungsfreiheit recht hoch hält und deshalb nie das Bezweifeln eines historischen Faktums ahnden wird – eine Resolution mit Erfolg in die UN-Vollversammlung eingebracht, die darauf abzielt, das Leugnen des Holocaust weltweit zu verurteilen. Unterstützt wird die Initiative von UN-Generalsekretär Ban Ki Moon: „Das ist die unverzichtbare Reaktion auf die törichten Personen, die behaupten, der Holocaust sei nie passiert oder übertrieben.“ Das zielt in erster Linie auf den Iran und in zweiter Linie auf den Antisemitismus in vielen arabisch-muslimischen Ländern. Die Resolution hat vor allem einen taktischen Wert.

Doch die entscheidende Frage heißt: Wo fangen wir an, wo hören wir auf? In freien Ländern darf alles infrage gestellt werden, selbst die Fundamente unserer Existenz – die Gesetze der Mathematik, die Gültigkeit der zehn Gebote, die Lehre Darwins, die Existenz Gottes. Denn freie Länder vertrauen auf die Wirkungsmacht der Vernunft. Autoritäre Regime dagegen setzen auf Dogmen. Dogmen brauchen weder verstanden noch eingesehen oder gar bewiesen zu werden. Sie gelten qua Dekret.

Soll der Holocaust zum Dogma werden? Und was, wenn’s dabei nicht bleibt? Frankreich will die Leugnung des Genozids an den Armeniern bestrafen, in der Türkei gilt das Gegenteil, in Polen darf man auch die kommunistischen Verbrechen nicht bestreiten. Ukrainer, Tutsis, Kambodschaner könnten bald ähnliche Gesetze auf den Weg bringen. Vollkommen absurd wäre es, aber derselben Logik gehorchend, auch den Klimawandel oder die Inhumanität der Todesstrafe unter Leugnungsschutz zu stellen.

Erlebte Wahrheit stiftet einen Sinnzusammenhang, der wiederum Identität verleiht. Ob Individuum oder Gesellschaft: Identitätsbedrohungen sind immer verletzend. Sie quälen die Seele. Das erklärt die Neigung, sie per Gesetz zu verbieten. Doch das hat mit wehrhafter Demokratie meist weniger zu tun als mit Angst. Wie schwach muss sich eine Gesellschaft fühlen, die meint, ein historisches Faktum gesetzlich schützen zu müssen. In England, Kanada und den USA lässt man falsche Ansichten über die Geschichte zu. Dort leben wahrscheinlich mehr Überlebende des Holocaust als in Europa. Das Maß finden für eine angemessene Erinnerung: In jedem weiteren Jahr nach 1945 scheint das schwieriger zu werden.

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