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Die Reihen lichten sich. Selbst Brexit-Hardliner kritisieren Großbritanniens Premierminister Boris Johnson, hier im Unterhaus.

© Jessica Taylor/AFP

Widerstand in Unter- und Oberhaus: Rebellen gegen Boris Johnson

Der britische Premier könnte die Unterstützung seiner Partei verlieren. Und Großbritannien seine internationale Glaubwürdigkeit. Fazit einer chaotischen Woche.

Gut sieht es für eine neue Vereinbarung mit der EU nicht aus, zum Ende dieser Woche in London. Seit die britische Regierung klar gemacht hat, dass schon die alte Vereinbarung nichts mehr gilt, sind bedrohliche Wolken aufgezogen über der Irischen See und am Ärmelkanal.

Statt von gütlicher Einigung über künftige Handelsbeziehungen ist von Sanktionen, von Gegenwehr, gar von einem kommenden Handelskrieg die Rede. Das Ultimatum, mit dem die EU Boris Johnson am Donnerstag konfrontierte, hat alte Ressentiments eingefleischter Anti-Europäer auf der Insel wieder aufgerührt.

„Screw EU!“ tönte am Freitag das Boulevardblatt „The Sun“: „Ihr drüben in Europa könnt euch gefälligst verpissen.“

Premier Johnson werde sich „von keiner Drohung der EU mit Verhandlungs-Abbruch einschüchtern lassen“, erklärte der „Daily Express“ – obwohl die EU solches (noch) gar nicht angedroht hat.

„Fronten sind endlich abgesteckt“

„Britain shall not be moved“, unbeirrt und standfest werde man Großbritannien erleben, fügte das Blatt hinzu. Und der „Telegraph“ freute sich schon auf die nächsten Scharmützel. „The battle lines have been drawn“, meldete er. Die Fronten seien nun endlich abgesteckt.

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Anlass zu solcher Aufregung gab die rasche Abfolge einer Reihe unerwarteter Ereignisse in der zurückliegenden Woche. Erst waren es Gerüchte, die davon sprachen, die britische Regierung erkenne den im vorigen Oktober mit Brüssel geschlossenen Vertrag zum Austritt aus der EU in einzelnen Punkten nicht mehr an.

Man wolle tatsächlich „internationales Recht brechen“

Dann bestätigte Nordirland-Minister Brandon Lewis, dass London gewisse Bestimmungen des Austrittsvertrags ignorieren und so tatsächlich „internationales Recht brechen“ wolle.

Das sogenannte Nordirland-Protokoll des Abkommens, das Irland eine „harte Grenze“ ersparen sollte, und das Boris Johnson persönlich aushandelte, schien dem britischen Mit-Urheber des Vertrags plötzlich inakzeptabel – weshalb ein brandneues Brexit-Gesetz den Briten jetzt das Recht verschaffen soll, das zum Problem gewordene Protokoll nach eigenem Gutdünken auszulegen.

Wenig später präsentierte Boris Johnson den Gesetzentwurf mit den Worten, er wolle so sein Land „gegen eine extreme oder irrationale Interpretation des Nordirland-Protokolls durch die EU schützen“. Eine solche einseitige Änderung des Austrittsvertrags im Nachhinein sei ausgeschlossen, erwiderte die EU.

Kommissions-Vizepräsident Maros Sefcovic reiste in aller Eile nach London, freilich nur um von dem für Brexitfragen zuständigen Minister Michael Gove gesagt zu bekommen, dass die „nationale Souveränität“ Großbritanniens es seinem Land erlaube, auch gegen internationales Recht zu verstoßen – und dass sich die britische Regierung von ihrem Vorhaben nicht abbringen lassen werde.

Am kommenden Montag bereits soll das Unterhaus über die Gesetzesvorlage erstmals abstimmen. Unterdessen hat die EU-Kommission Johnson aufgefordert, von dem geplanten Vertragsbruch Abstand zu nehmen: Sonst erwäge man rechtliche Schritte im Oktober schon.

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Zur gleichen Zeit liefen, unweit des explosiven Treffens von Gove und Sefcovic, die regulären Verhandlungen über einen Post-Brexit-Handelsvertrag weiter zwischen dem britischen Chefunterhändler David Frost und seinem EU-Gegenüber Michel Barnier. Frost hatte schon zu Wochenbeginn erklärt, London scheue sich nicht davor, die Gespräche notfalls ergebnislos platzen zu lassen. Barnier mahnte nach den Tumulten der Woche beide Seiten, „Ruhe zu bewahren“. Die Verhandlungen werden, wiewohl im Schatten der neuen Krise, nächste Woche in Brüssel fortgesetzt.

Briten spielen mit ihrer Glaubwürdigkeit

In Westminster aber bahnt sich ein politisches Kräftemessen an um Johnsons Initiative, die selbst hartgesottene Insel-Juristen als „schockierend“ bezeichneten. Der Top-Jurist der Regierung, Sir Jonathan Jones, war spontan zurückgetreten nach Bekanntwerden des Plans.

Zwei ehemalige konservative Premierminister und die Tory-Vorsitzenden mehrerer wichtiger Unterhaus-Ausschüsse haben ebenfalls eindringlich gewarnt davor, dass Großbritannien bei einer bewussten Verletzung internationaler Verträge alle Glaubwürdigkeit verspiele, auf die es bei künftigen Vertragsschlüssen angewiesen sei.

Die Mehrheit der Tory-Parlamentarier blieb freilich stumm. Und ob sich nächste Woche genug „Rebellen“ gegen das neue Brexit-Gesetz finden, weiß niemand zu sagen. Immerhin verfügt Boris Johnson über eine Unterhausmehrheit von 80 Stimmen. Eher möglich wäre es, dass das Oberhaus das Gesetz blockieren könnte. „In seiner gegenwärtigen Form wird das kaum durchs House of Lords kommen“, glaubt der frühere Tory-Schatzkanzler, Norman Lamont, der ebenfalls zu den Brexit-Hardlinern gehört.

Unter Druck sieht sich die Regierung auch von anderer Seiten. Nancy Pelosi, die Sprecherin des US-Repräsentantenhauses, hat bereits angekündigt, dass der Kongress „unter überhaupt keinen Umständen“ einem neuen Handelsdeal zwischen Großbritannien und den USA zustimmen werde, wenn London mit derart brachialen Mitteln das mit amerikanischer Hilfe zustande gekommene Karfreitags-Abkommen und den Frieden in Nordirland gefährde.

Peter Nonnenmacher

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