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Politik: Wie dachten Leser nach dem Krieg?

Der 8. Mai ist ein Gedenktag, der im Verlauf von sechzig Jahren sein Gesicht verändert hat.

Der 8. Mai ist ein Gedenktag, der im Verlauf von sechzig Jahren sein Gesicht verändert hat. Im Jahr 2005 betrachten wir ihn als einen Tag der Befreiung, aber in der Nachkriegszeit und bis spät in die sechziger Jahre bedeutete der 8. Mai für die meisten Deutschen einen Tag der Niederlage. Mit dem Kriegsende verlor die Bevölkerung einen Teil ihrer Vergangenheit, deren Trümmer nicht in das Fundament der neuen Demokratie eingebaut werden konnten. Wo blieb diese Vergangenheit und damit die Erinnerung an zwölf Jahre, in denen mehr als zehn Millionen Menschen umgebracht wurden und die meisten Deutschen dabei zusahen, wegsahen, Befehle gaben oder ausführten, schwiegen oder resignierten?

Viele Erinnerungen sind in Leserbriefe eingeflossen. Die Leser nutzten die Rubrik „Demokratisches Forum“ des Tagesspiegels seit Oktober 1945 intensiv, um ihre persönlichen Erinnerungen einer breiten Öffentlichkeit mitzuteilen. Im Vergleich zu anderen Themen nahm die NS-Vergangenheit einen großen Raum ein; etwa jeder dritte Brief bezog sich darauf. In den frühen Nachkriegsjahren und bis zum Beginn der fünfziger Jahre fragten die Leser in ihren Zuschriften nach Ursachen des Nationalsozialismus. Sie berichteten über eigene Erfahrungen oder teilten ihre Emotionen mit; nur selten wurden aktuelle politische Anlässe diskutiert. Viele Leser stellten sich die Frage nach einer eigenen Mitschuld an der NS-Vergangenheit. Ehemalige jüdische Verfolgte nutzten das Forum, um ihre Erfahrungen mitzuteilen. Jugendliche und Erwachsene diskutierten miteinander darüber, ob und in welchem Maße von einer Mitschuld ehemaliger Mitglieder von NS-Jugendorganisationen gesprochen werden konnte.

Mit Beginn der fünfziger Jahre veränderte sich das Profil der Zuschriften. Die Briefe waren nun weniger persönlich und selbstkritisch ausgerichtet, sondern bezogen sich stärker auf politische Ereignisse. Viele Leser forderten, einen „Schlussstrich“ zu ziehen. Das äußerte sich vor allem in Debatten um die in Berlin-Spandau inhaftierten NS-Verurteilten, unter ihnen Rudolf Heß, Albert Speer und der ehemalige Reichsaußenminister Konstantin von Neurath. Demokratisch ging es im „Demokratischen Forum“ nicht immer zu. Regelmäßig erschienen antisemitische Äußerungen und Hetzbriefe, die heute in einer Tageszeitung nicht mehr abgedruckt würden und die an dieser Stelle nicht wiedergegeben werden sollen. Möglicherweise zensierte die Leserbriefredaktion damals nur selten oder antisemitische Äußerungen wurden von ihr als gesellschaftsfähig betrachtet.

Das erklärt aber nicht, warum solche Briefe nicht auch schon in den fünfziger Jahren als Volksverhetzung geahndet wurden, denn diesen Straftatbestand erfüllten sie auch damals schon. Die Leser der Nachkriegszeit schrieben ihre Briefe für das „Demokratische Forum“ zu anderen Anlässen und mit anderen Worten, als es die Leser für die heutige „Leser-meinung“ tun. Geblieben ist der Wunsch danach, eine breitere Öffentlichkeit anzusprechen. Als Quellen sind Leserbriefe darum so aufschlussreich, weil sie eine Schnittstelle zwischen Meinung und Ereignis bilden. Die Leserbriefe des „Demokratischen Forums“ erschließen uns zeitgeschichtliche Ereignisse. Vor allem aber können wir in den Briefen lesen, wie die Menschen vor sechzig Jahren diese Ereignisse gesehen, empfunden und ausgedrückt haben.

Die Historikerin Anna Kröning hat die zwischen 1945 und ’55 veröffentlichten Leserbriefe an den Tagesspiegel in einer Magisterarbeit untersucht.

Anna Kröning

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