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Eher die Ausnahme: Viele Kinder unter einem Dach.

© Getty Images/iStockphoto

Wie gerecht sind die Beiträge zur Pflegeversicherung verteilt?: Kleiner Erfolg für kinderreiche Familien in Karlsruhe

Das Bundesverfassungsgericht fordert, Eltern mit vielen Kindern in der Pflegeversicherung zu entlasten. Wenn man wollte, ginge das auch woanders. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Jost Müller-Neuhof

Gerechtigkeit ist schwierig genug, im komplizierten System der deutschen Sozialversicherungen wird alles noch schwieriger. Irgendwo bekommt immer einer mehr, und eine andere hat weniger. Oder eine zahlt mehr, und ein anderer kommt billiger weg.

Jetzt hat das Bundesverfassungsgericht mahnend den Finger gehoben, dass eine relativ kleine Bevölkerungsgruppe über Gebühr benachteiligt wird: die so genannten Kinderreichen. Im Beitragssystem der Pflegeversicherung wird ihre Nachkommenschaft bisher nicht abgebildet. Stattdessen gibt es einen Zuschlag für jene, die im allgemeinen Sprachgebrauch stets etwas abwertend als Kinderlose bezeichnet werden.

Das mag angesichts der geltenden Beitragssätze von 3,05 Prozent des Bruttoeinkommens für Eltern gegenüber 3,4 Prozent für Menschen ohne Kinder im Portmonee ohnehin kaum spürbar sein; egal, wie es künftig berechnet wird. Doch geht es um Kinder und damit um jenen Faktor, auf den die Sozialversicherungen in jeder Spielart angewiesen sind. Und es geht um Prinzipien der Gleichbehandlung, die verlangen, Ungleiches entsprechend ungleich zu behandeln. Der Gesetzgeber hat nun eine Frist bis August nächsten Jahres, um eine Neuregelung zu treffen. Wie sie aussieht, ist der Politik anheimgestellt. Man kann die Sätze anpassen oder die notwendige Differenzierung aus dem Steueraufkommen leisten.

Wer Kinder aufzieht, leistet einen „generativen Beitrag“

Der Karlsruher Beschluss bezeugt ein Versäumnis. Denn schon der gegenwärtige Zuschlag wird nur abgefordert, weil das Verfassungsgericht in seinem Pflege-Urteil von 2001 auf eine stärkere Berücksichtigung drang. Wer Kinder aufziehe, hieß es, leiste als Mitglied der Pflegeversicherung neben seiner Beitragszahlung auch einen menschlichen, einen „generativen Beitrag“, der eingerechnet werden müsse.

Ob dies nach Kinderzahl zu staffeln sei, wurde nach dem damaligen Urteil intensiv, aber ohne Ergebnis diskutiert. Der Zuschlag schien als Lösung des Problems einfach und gerecht. Auch im jetzt beendeten Verfahren vor Gericht argumentierte die Bundesregierung damit, dass der „generative Beitrag“ in der Pflegeversicherung gegenüber dem monetären nicht allzu hoch anzusetzen sei; er realisiere sich erst Jahrzehnte später, und es stehe keineswegs fest, ob aus Kindern auch später Beitragszahler würden.

Paare mit vielen Kindern brauchen von allem mehr

So kann man rechnen, aber gerecht ist es nicht, zumal rund 70 Prozent der Gesamtbevölkerung in die Pflegekasse einzahlen. Mit drei und mehr Kindern besteht ein „überdurchschnittliches Armutsrisiko“ für die Familie, heißt es im Beschluss. Denn es sei zwar ein Erfolg, dass immer mehr Mütter am Arbeitsleben teilhaben könnten. Ab drei Kindern sieht es aber schnell anders aus. Meist muss dann ein Einkommen reichen. Paare mit vielen Kindern brauchen von allem mehr: mehr Wohnraum, mehr Lebensmittel, mehr Strom, mehr Heizung und mehr Betten im Urlaub - sie können aber weniger dafür ausgeben.    

Hier zeigt sich ein Realitätssinn in Karlsruhe, der politisch-medialer Schönfärberei familiärer Verhältnisse wohltuend widerspricht. Kinder und Beruf so zu vereinbaren, dass alle an allem angemessen teilhaben können, ist schon bei zwei Kindern eine ehrliche Herausforderung; ab drei ist es eine Illusion, zumindest bisher und für jene, die nicht in Wohlstand hineingeboren wurden. Dass die Hälfte aller Familien in Deutschland Ein-Kind-Familien sind, dürfte auch darin eine Ursache haben.

Ein bescheidener Erfolg für die Kläger

Andererseits handelt es sich um eine individuelle Lebensentscheidung der Paare, deren finanzielle Lasten nicht unbegrenzt verteilt werden können. So sieht es wohl auch das Bundesverfassungsgericht, weshalb es eine stärkere Berücksichtigung der Kinderzahl bei den Beiträgen für die Renten- und Krankenversicherung zurückwies. In beiden Versicherungszweigen finden sich Elemente der Familienförderung, die das jeweilige System unter Gleichheitsgesichtspunkten gerecht erscheinen lassen; bei der Rente etwa die Anrechnung der Erziehungszeiten, bei den Krankenkassen die beitragsfreie Familienversicherung.

Die kinderreichen Klägerinnen und Kläger haben deshalb nur einen eher bescheidenen Erfolg in Karlsruhe erringen können. Sie hatten sich mehr versprochen. Der eigentliche Wert ihres Prozesses mag deshalb darin liegen, auf sich und ihre Situation aufmerksam gemacht zu haben. Der Politik steht es frei, große Familien entsprechend ihren tatsächlichen Belastungen stärker zu fördern. Es könnte mehr bringen, als es kostet.         

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