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Bundeskanzlerin Angela Merkel am Mittwoch im Kabinett.

© imago/Emmanuele Contini

Wie regiert die große Koalition?: Angela Merkels Bundes-Kommissionsrepublik

Rente, Pflege, Kohle, Heimat und das Digitale: Konzertierte Aktionen und Expertengremien prägen das Regierungsgeschäft von Union und SPD. Eine Erkundung.

„Wir wollen da kein Kaffeekränzchen abhalten“ und man leide auch nicht unter „Kommissionitis“, hat Jens Spahn gesagt, als er unlängst eines jener Beratungs- und Beschlussvorbereitungsgremien vorstellte, die zur Grundausstattung modernen Regierens gehören. Der christdemokratische Gesundheitsminister rief eine „Konzertierte Aktion Pflege“ ins Leben, und der Name deutet an, wann das moderne Regieren begonnen hat: Spahn knüpfte mit der Benennung der Runde an die Konzertierte Aktion an, welche die erste große Koalition 1967 ins Leben rief, um angesichts einer eher moderaten Wirtschaftskrise Gewerkschaften und Arbeitgeber an einen Tisch zu bringen und die keynesianische Steuerungs- und Lenkungspolitik abzusichern, welche Wirtschaftsminister Karl Schiller (SPD) und Finanzminister Franz Joseph Strauß (CSU) ins Werk setzen wollten.

Um die Wirtschaftsakteure dorthin zu bringen, wo die Regierung sie haben wollte, saßen auch mehrere Ministerien, ein wissenschaftlicher Sachverständigenrat der Regierung und die Bundesbank mit am Tisch. Einige Jahre wurde diese Konzertierte Aktion als Regierungsinstrument eingesetzt, auch von der späteren sozialliberalen Koalition. 1977 aber war Schluss: Den Gewerkschaften missfiel die Einhegung der Tarifautonomie, die Klage der Arbeitgeber gegen das Mitbestimmungsgesetz diente als Rückzugsgrund. 

Aber die Idee war nicht tot. Wiederbelebt wurde sie, angesichts hoher Arbeitslosigkeit, 1998 von Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD). Das „Bündnis für Arbeit“ sollte zeigen, dass seine rot-grüne Koalition etwas zu tun beabsichtigte. Die Runde schleppte sich hin bis 2003. Im Gesundheitswesen war schon 1977 eine Konzertierte Aktion unter Mitwirkung aller relevanten Verbände begonnen worden, um die Kostenentwicklung zu dämpfen. Sie hatte sich aber nach 20 Jahren verausgabt. Der Zweck von Kommissionspolitik war einst wie jetzt: In einem Politikfeld, das streitanfällig ist, die Akteure unter Erfolgsdruck zu setzen und sie zu zwingen, sich – gesteuert von der Regierung – auf Lösungen zu verständigen. Die Gesetzgebung ist dann leichtes Spiel. Spahn will so einige Probleme – Ausbildung der Pfleger, deren Bezahlung und Arbeitsbedingungen, die Qualität der Pflege, ausländische Fachkräfte – im Konsensverfahren lösen. Um Erfolg melden zu können, setzt er auf Zeitdruck: Zwölf Monate soll die Sache dauern.

"Auch einfach mal der berühmte Arbeitskreis"

Die Berliner Politikwissenschaftlerin Sabine Kropp sieht darin eine der möglichen Stoßrichtungen beim Einsetzen von Kommissionen. Es gehe darum, „eine baldige Problemlösung herbeizuführen oder Wissen zu generieren, um also eine Problemlösung vorzubereiten“. Aber es kann auch andere Motive geben. „Da wird auch einfach mal der berühmte Arbeitskreis gebildet, um ein Thema vom Tisch zu haben“, sagt Kropp.

Hier bietet sich zum Beispiel die Expertenkommission an. Entsprechend unterschiedlich fällt laut Kropp der Erfolg von diesen Runden aus. „Bisweilen wirken sie allenfalls indirekt, manchmal enden die Ergebnisse auch einfach nur in der Schublade, weil kein Interesse oder kein Bedarf mehr besteht.“ Bei Kommissionen, in denen die Betroffenen und Verbände eingebunden werden, stehe dagegen stärker der Aspekt der Machbarkeit im Vordergrund. „Sie sind damit in aller Regel erfolgsorientiert.“

Auf diese Weise geht auch die vierte Regierung von Angela Merkel eine ganze Reihe von Problemfeldern an. Die Kanzlerin ist eine Meisterin des Regierens durch Konzertieren, Moderieren und Koordinieren. Sie nutzt das Verstricken von möglichen Gegnern und „Problembären“ in Konsenszwang und Kompromisspolitik, um zu Ergebnissen zu kommen. Zu diesem Politikstil gehört das Vermeiden von direkten Konflikten und das Ausweichen in größere Zusammenhänge (Horst Seehofer hat gerade erlebt, wie das geht). Doch meidet Merkel die große Inszenierung – im Gegensatz zu Schröder, der sich nicht zuletzt mit der Einsetzung der „Kommission für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt“ als progressiver Erneuerer verewigen wollte. Bekannt wurde diese konzertierte Aktion als Hartz-Kommission. 

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Gerhard Schröders offensiver Stil

Kropp erklärt den Stil von Schröder und seinem engsten Vertrauten Frank-Walter Steinmeier mit dem Versuch, sich von der Ära Kohl abzusetzen. „Sie suchten mit den verschiedenen Kommissionen sehr stark den Weg in die Öffentlichkeit und wollten zeigen, dass Rot-Grün einen modernen, offenen, transparenten und auf Problemlösung gerichteten Politikstil pflegt, in dem gesellschaftlicher Konsens und wissenschaftliche Beratung eine wichtigere Rolle einnehmen als unter der Regierung Kohl.“  Entsprechend nahm die Berichterstattung darüber stark zu, bald war der Vorwurf der Kommissionitis zu hören und dass Schröder am Bundestag vorbeiregieren wolle. Kropps Erkenntnisse stützen das nicht: „Aus der Zahl und den Kosten lässt sich nicht ableiten, dass unter Schröder die Kommissionsarbeit ausgebaut worden ist. Sie wurde nur öffentlichkeitswirksamer inszeniert.“ Unter Merkel habe sich das abgeschwächt.

Offenkundig hatte sie aus dem Hartz-Desaster gelernt. Doch wird das Instrument der Kommissionen auch von der neuen schwarz-roten Koalition munter eingesetzt. Ein gutes Dutzend Beratungsrunden sind beschlossene Sache. Darunter neben Spahns Pflege-Aktion drei Dickschiffe. Da ist die gerade eingesetzte Rentenkommission (Überschrift: „Verlässlicher Generationenvertrag“), welche vor allem für Sozialminister Hubertus Heil (SPD) zur entscheidenden Talentprobe wird. Wirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) vor allem muss mit der Kommission „Wachstum, Strukturwandel und Beschäftigung“ zeigen, dass er das Kommissionsmetier beherrscht - ihrem Hauptzweck nach heißt das Gremium mit seinen 24 Mitgliedern auch „Kohlekommission“, denn um die klimapolitisch begrenzte Zukunft dieser Branche und damit der Kohleregionen geht es vor allem. Sie hat die Arbeit zügig aufgenommen. Ihre Besonderheit: Drei erfahrene Politiker (Matthias Platzeck, Ronald Pofalla, Stanislaw Tillich) bilden mit der Berliner Ökonomin Barbara Praetorius eine Vorsitzendenrunde, die das Ganze offenbar zum Erfolg steuern soll.

Seehofers Kommission zur Heimatpolitik

Das dritte Großprojekt ist die die Kommission „Gleichwertige Lebensverhältnisse“, die von Seehofers Innenministerium im Rahmen der neuen Heimatpolitik verantwortet wird. Sie gehört in die Rubrik Verfassungskommission, es geht um die Kooperation von Bund, Ländern und Kommunen, Teilnehmer sind die Regierungen und die Kommunalverbände. Das Ziel scheint mehr Zentralsteuerung („gezielte Strukturverstärkungen“) zu sein und das Verteilen von Geld, etwa zum Abbau von kommunalen Altschulden. Da Seehofer zuletzt anderes zu tun hatte und es Streit vor allem mit der Ministerkollegin Julia Klöckner um den Zuschnitt der Runde gab, arbeitet die Kommission noch nicht. An diesem Mittwoch erst beschloss das Kabinett die Einsetzung.

In eine ähnliche Richtung, nämlich das Einbinden der Länder und Kommunen, geht auch der Nationale Bildungsrat, den Bildungsministerin Anja Karliczek (CDU) einberufen hat. Er gehört zu jener Gremienvariante, in der wissenschaftlicher Expertenrat dazu dienen soll, alle Beteiligten hinter den Lenkungswünschen des Initiators zu versammeln. Zu den Aufgaben gehört, die Digitalisierung des Schulunterrichts zu begleiten, wozu der Bund einige Milliarden beisteuern will. Der Bildungsrat ist somit ein Element des Kernvorhabens der Koalition, die Digitalisierung in allen Bereichen des Lebens schneller voranzubringen. Das Kanzleramt bedient sich dazu des Digitalrats, in dem ausgesuchte Experten die Regierung weiterbringen sollen „bei Dingen, die wir noch nicht so wissen“, wie Merkel es formuliert hat. Mehr weiß man aber über den Digitalrat noch nicht. 

Daten und Digitales

Innenministerium und Justizministerium lassen zudem eine Daten-Ethikkommission arbeiten, in der Experten Ratschläge ausarbeiten sollen zu einem modernen Datenrecht und den wirtschaftlichen Möglichkeiten und Unmöglichkeiten von Algorithmen. Damit die eventuellen ethischen Zweifel an der Digitalbranche ein ökonomisches Gegengewicht haben, veranstaltet das Wirtschaftsministerium eine auf Digitales ausgerichtete „Kommission Wettbewerbsrecht 4.0“, in der die Unternehmen vertreten sind. Um auch das Parlament in das Digitalgroßprojekt einzubinden, hat die Koalition eine Enquete-Kommission des Bundestags zur künstlichen Intelligenz beschlossen. Diese Form der parlamentarischen Teilhabe am modernen Regieren ist auch ein Kind der Sechzigerjahre, seither hat es 27 Enquete-Kommissionen gegeben. Auch sie dienen dazu, Gesetzgebungsprozesse vorzuformen. Zur Digitalpolitik der Koalition gehört auch die von Heil, Altmaier und Karliczek organisierte „Nationale Weiterbildungsstrategie“, eine klassische konzertierte Aktion mit den Tarifpartnern.

Auch in der Flüchtlingspolitik wird eine Entscheidungsvorbereitungsrunde eingerichtet. Eine Fachkommission zu Rahmenbedingungen der Integrationsfähigkeit soll zusammen mit dem Integrationsbeauftragten der Regierung, den Sozialpartnern, Wissenschaftlern und Vertretern gesellschaftlicher Gruppen einen Bericht vorlegen – Genaueres weiß man vom verantwortlichen Minister Seehofer aber noch nicht. Ähnliches gilt für die Mobilitätskommission von Verkehrsminister Andreas Scheuer (CSU).

"Parlamente nicht ausgeschaltet"

Die Kritik, dass das Regieren mit Kommissionen dazu diene, den Einfluss der Parlamente auszuhebeln, teilt Kropp nicht. „Kommissionen sind ein legitimes Instrument des Regierungshandelns, und Regierungen müssen sich dafür zunächst einmal nicht rechtfertigen, wie sie Informationen einholen“, sagt die FU-Politologin. „Die Parlamente sind damit nicht zwangsläufig ausgeschaltet, sondern können ihre Rolle weiterhin einnehmen. Kritisch wird es, wenn Parlamente zum Beispiel aufgrund des Zeitdrucks keine Möglichkeit mehr haben, Ergebnisse von Kommissionen zu beraten. Dies war bislang jedoch eher die Ausnahme.“

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