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Politik: Wie wir bleiben, was wir sind

Von Moritz Schuller

Die 19 apokalyptischen Nihilisten entschieden sich für den 11. September. Der war schon immer der Tag des Kulturkampfes. Denn hätten die Griechen an jenem anderen 11. September nicht die persische Armee bei Marathon besiegt, das goldene Zeitalter der athenischen Antike hätte kaum so stattgefunden. Kein Sokrates, kein Platon, keine griechische Tragödie, und auch kein Goethe und kein Nietzsche. Es wäre nie wieder so gewesen, wie es vorher war.

Erst langsam beginnen die liberalen Demokratien zu verstehen, was der Terror bedeutet, der für sie heute vor vier Jahren begann: Dass die Rückkehr des Hasses ihnen den Kampf um die eigenen Werte aufzwingt, dass auch die Demokratie plötzlich zu Mitteln greifen muss, die das, wofür sie steht, zerstören könnten. Darin, dass Gewalt gegen Gewalt eingesetzt und Freiheit im Namen der Freiheit eingeschränkt werden muss, besteht auch vier Jahre nach 9/11 noch immer das Dilemma.

Der Krieg gegen den Terror erfordert auch eine Erneuerung der Demokratie im Inland. Die USA, die auf beiden Wegen ungleich weit gegangen sind, sind so schnell bei Guantanamo angekommen, ein abschreckendes Ziel. Umgekehrt setzt die Debatte in Europa darüber, was den Charakter unserer Gesellschaften ausmacht, nur langsam ein, oft erst als Reaktion auf Anschläge im eigenen Land. So haben in Großbritannien erst die Bombenexplosionen in der Londoner Innenstadt eine wirkliche Diskussion darüber ausgelöst, wie verantwortungslos der tolerante Umgang mit militanten britischen Islamisten bisher gewesen war.

In Deutschland fehlt es an solchen Debatten, vermutlich, weil die gefühlte Bedrohung trotz Madrid, trotz Beslan so überraschend gering ist. Nach einer aktuellen Umfrage des German Marschall Fund aus dem Frühjahr (vor den Anschlägen in London) fürchtet sich in Europa niemand so wenig vor einem Terroranschlag wie die Deutschen. Mit Abstand haben sie, die sonst so Schwermütigen, die geringste Angst davor, Opfer eines Terroranschlags zu werden. Vielleicht sogar zu Recht. Die Sicherheitsmaßnahmen sind weltweit verschärft worden, wichtige Führungsmitglieder von Al Qaida außer Gefecht gesetzt, und Deutschland steht trotz seiner „imperialistischen“ Afghanistanpolitik vermutlich doch nicht ganz weit oben auf der Zielliste der Terroristen.

Doch damit fehlt den Deutschen auch das, was bei der derzeitigen amerikanischen Regierung so ausgeprägt ist – die Motivation, sich auch für eine Stärkung und Erneuerung der Demokratie im Ausland einzusetzen. 60 Jahre stand der Westen im Konflikt zwischen den unterdrückten arabischen Völkern und ihren Herrschern stets auf der falschen Seite. Und das beschreibt das andere Dilemma, vor das uns der 11. September plötzlich gestellt hat: Wie wir uns von diskreditierten Regierungen distanzieren können, ohne damit den Terror zu legitimieren; wie und mit welchen Mitteln wir autoritären Gesellschaften die Demokratie nahe bringen. Bei der Wahl in Ägypten, aus der zwar wieder Hosni Mubarak als Sieger hervorgegangen ist, gab es auf Druck der USA diesmal Gegenkandidaten. Das ist wenigstens ein Anfang.

Unsere Ressource gegen den Terror, schreibt der Politologe Michael Ignatieff, ist unsere Identität. Die hat viel mit dem 11. September zu tun, jenem 490 vor Christus und jenem von vor vier Jahren.

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