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Fotoshooting für Wikipedia. Linken-Fraktionsvize Sahra Wagenknecht posiert routiniert.

© Martin Kraft | Lizenz: CC-BY-SA 3.0

Wikipedia-Workshop im Bundestag: "Dürfen wir da selbst dran rumfuhrwerken?"

Bei einem Workshop der Online-Enzyklopädie Wikipedia bekommen Abgeordnete den Umgang mit dem Medium erklärt - und ihre Grenzen aufgezeigt.

Mehr als die Hälfte aller Bundestagsabgeordneten hat an einem Workshop der Online-Enzyklopädie Wikipedia teilgenommen. Der Aktion im dritten Stock des Reichstages lief in drei Stationen ab: Zuerst wurden die Abgeordneten fotografiert, dann konnten sie eine etwa einminütige Videobotschaft aufnehmen. Dritte und letzte Station war die Redaktion, in der einzelne Einträge editiert und auf den neuesten Stand gebracht wurden.

Die Grünen-Abgeordnete Nicole Maisch hat Foto- und Videosession schon hinter sich gebracht und nähert sich dem Redaktionszimmer. "Mich treibt die Neugier her: wer schreibt das eigentlich alles? Wer steckt hinter der Anonymität?", erzählt sie. Im Redaktionszimmer warten Männer zwischen 20 und 40 Jahren an fünf Arbeitsplätzen und besprechen mit Abgeordneten oder deren Mitarbeitern die Einträge.

Maisch ist mit "ihrem" Artikel weitgehend zufrieden, nur Kleinigkeiten sollen korrigiert werden: "Da fehlt noch Tierschutz!" - oder: "In diesem Ausschuss sitze ich nicht mehr." Auch die Haarfarbe auf dem Foto war veraltet, mittlerweile trägt die 33-Jährige wieder heller. Als sie den Redaktionsraum nach zehn Minuten verlässt, ist alles auf dem aktuellen Stand, auch das Bild.

Kurzvideo mit der Vizepräsidentin des Bundestags Claudia Roth (Grüne).
Kurzvideo mit der Vizepräsidentin des Bundestags Claudia Roth (Grüne).

© Martin Kraft | Lizenz: CC-BY-SA 3.0

Bevor sich die Politikerin verabschiedet, will sie noch vom Redaktionsteam wissen: "Wollen Sie eigentlich, dass wir da selbst dran rumfuhrwerken? Machen das Kollegen?" Die Antwort lautet, dass es sogar erwünscht ist, wenn Falsches korrigiert oder fehlende Fakten ergänzt werden. Und anscheinend ist es auch nicht unüblich, dass zumindest die Mitarbeiter die Einträge ihrer Abgeordneten im Blick behalten. "Wir gucken da alle paar Wochen mal drauf", sagt beispielsweise ein Mitarbeiter eines SPD-Abgeordneten aus Mecklenburg-Vorpommern. Bevor sein Chef in das Parlament einzog, hatten sie auch schon einen Artikel vorbereitet, um diesen schnellstmöglich online zu bringen.

"Spin-Doktoren haben wir im Griff"

Doch vor einer übermäßigen Einflussnahme der Abgeordneten-Büros auf die Einträge müsse man sich keine Sorgen machen, behaupten die Wikipedianer. "Wir haben es schon mit Spin-Doktoren zu tun oder PR-Agenturen. Aber wir bilden uns ein, das im Griff zu haben", sagt der ehrenamtliche Wikipedia-Mitarbeiter Martin Kraft. Da alle Änderungen transparent nachvollziehbar sind und die Editoren über ihre IP-Adresse nachverfolgbar, können Manipulationsversuche schnell aufgedeckt werden.

"Wir hatten mal einen Fall, da wurde mehrfach ein Skandal massiv aufgehübscht", plaudert der 35-Jährige aus dem Nähkästchen. Nach kurzer Recherche fand er heraus, dass die Änderungen von einem Anwaltsbüro ausgeführt wurden, das einer am Skandal beteiligten Person nahestand. "Dann haben wir denen eine nette Mail geschrieben, dass wir das auch gerne an die Medien weitergeben können, wenn sie weiter daran herumschreiben." Seitdem kam kein Eingriff mehr.

Schwieriger sei die Neutralität zu wahren, wenn bei komplexen Themen mehrere Autoren und Editoren mitmischen wie zum Beispiel beim Eintrag zum Ukraine-Konflikt. "Da wird sehr intensiv diskutiert und editiert, aber der rote Baustein über dem Artikel zeigt das an", erklärt Kraft. Auch für die Funktionsweise der Wikipedia wolle man die Abgeordneten sensibilisieren, zum Beispiel, dass sie auch einmal einen Blick in die Versionsgeschichte eines Artikels werfen, um zu sehen, wie umkämpft diese sind.

Beim Workshop im Reichstagsgebäude geht es dagegen meist um einzelne Formulierungen oder das Verhältnis zwischen einem Skandal und der Vita eines Politikers in einem Artikel. "Es gab ein paar Problemfälle, wo etwas gelöscht werden sollte, da mussten wir gegenhalten", erzählt Kraft, "Die Allermeisten wissen aber, was geht und was nicht."

Norbert Lammert (CDU), Präsident des Deutschen Bundestages, lässt sich die Bilder zeigen.
Norbert Lammert (CDU), Präsident des Deutschen Bundestages, lässt sich die Bilder zeigen.

© Martin Kraft | Lizenz: CC-BY-SA 3.0

Mit der CSU-Abgeordneten Astrid Freudenstein läuft hingegen alles reibungslos. "Ich hatte einfach noch keinen Skandal", lacht die Politikerin. Ihr Kurzvideo bringt sie routiniert über die Bühne. Noch ist es allerdings nicht online, auch wenn die etwa 30 Ehrenamtlichen neben dem Fotostudio und der Redaktion auch gleich Bild- und Videobearbeitung leisten.

Viele Prominente kommen zum Workshop - nur die Regierung nicht

Die Wikipedianer touren seit 2009 durch die Landtage, um die Einträge der jeweiligen Abgeordneten mit gemeinfreien Bildern zu bestücken und auf den aktuellsten Stand zu bringen. Gerne erinnert man sich an Rheinland-Pfalz: Hier kamen wirklich alle 101 Mandatsträger zum Fotoshooting.

Diese Ausbeute ist im Bundestag undenkbar, auch wenn für den Workshop extra die Haushaltswoche ausgesucht wurde, in der normalerweise alle Abgeordneten vor Ort sind. Trotzdem ist die Fotostation am Freitagvormittag hoch frequentiert, viele Abgeordnete wollen offenbar noch auf den letzten Drücker mitmachen: Sie werden von Schülern einer Kosmetikschule geschminkt, bevor sie von der Fotografie-AG eines Gymnasiums bei Osnabrück abgelichtet werden. Da Bilder nur in die Enzyklopädie aufgenommen werden, wenn ihre Lizenzen gemeinfrei sind, haben viele Abgeordnete bisher in ihrem Eintrag ein verpixeltes Bild von einem Wahlkampf-Auftritt oder einer Diskussionsrunde; bisweilen verdeckt ein Mikrofon das halbe Gesicht.

Auch viele prominente Politiker wie Claudia Roth, Sahra Wagenknecht oder Norbert Lammert fanden trotz ihres engen Terminkalenders den Weg den Weg vor die Linse der Fotografen und in den Redaktionsraum. Einige der 343 Teilnehmer wollen so schnell wie möglich verschwinden, andere bleiben länger und hören interessiert zu: Offenbar beschäftigen sich viele Politiker intensiver mit dem "Neuland" Internet. Dabei waren alle Fraktionen im Verhältnis zu ihrer Mandatszahl etwa gleich stark vertreten. "Nur die Präsenz der Regierung ließ bisher zu wünschen übrig", sagte Kraft.

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