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Politik: Wille und Wirklichkeit

Von Lorenz Maroldt

In der Gesamtabwägung komme er zu dem Schluss, dass mit Neuwahlen dem Volk am besten gedient sei. So sprach der Bundespräsident bei seiner Parlamentsauflösungserklärung. Er hatte sich das sicher ganz anders vorgestellt. Doch steckt in diesem Satz angesichts des neuen Bundestags eine späte Weisheit. Das Volk hört seit Jahren aus der Politik, es solle überkommenes Denken beenden und bereit zur Veränderung sein, sich einstellen auf eine ungewissere, härtere Zeit, solle etwas riskieren. Jetzt hört die Politik dieselbe Botschaft vom Volk. Das Wahlergebnis, das keinen direkten Sieger hervorgebracht hat, keinen Auftrag erkennen lässt, zwingt die Parteien, über Dinge zu reden, die sie zuvor kaum zu denken wagten. Das ist nicht das Schlechteste.

Die Wähler haben den Parteien wie einst Joschka Fischer dem USVerteidigungsminister Rumsfeld zugerufen: I’m not convinced. Nicht überzeugt davon, dass es die Union mit Angela Merkel besser kann; dass es Rot-Grün mit Gerhard Schröder im dritten Anlauf richtig macht. Absolut gewonnen hat ein linkes Lager, das es gar nicht gibt. Relativ gewonnen hat ein bürgerliches Lager, dem zu viel fehlt – in vielerlei Hinsicht.

So ist heute nicht sicher, ob tatsächlich einer der Kandidaten am Ende auch Kanzler ist. Zurzeit stehen beide einer Lösung eher im Weg. Schröder, der den Eindruck erweckt, er erkenne keine Parteien mehr an, sondern nur noch sich selbst, hat die Sozialdemokraten in eine Sackgasse geführt. Siegestrunken, haben sie es nicht richtig bemerkt. Aus einer fixen Idee im Sinne der schnellen, nicht zu Ende gedachten Idee, gegen die größte Fraktion mit deren Stimmen Kanzler bleiben zu wollen, wurde zu schnell eine fixe Idee im Sinne von festgelegt. Merkel fehlte, auch hier, die Reaktionsfähigkeit, Schröders Machtrausch mit dessen eigenen Worten zu kontern: Glauben Sie im Ernst, dass meine Union auf ein Gesprächsangebot eingeht, bei dem Sie sagen, Sie wollen Kanzler werden? Sie werden nicht Kanzler, nicht mit den Stimmen meiner Union.

Anders Schröder: Sie werden es nicht!, das sagt er Merkel vor aller Welt. Deren Kanzlerschaft verhindert zu haben, mag er dereinst, falls er denn Recht behält, zum Primärziel umformulieren, vielleicht mit den Worten, auch damit sei dem Volk am besten gedient, weil sie „es“ eben nicht könne. Kanzlerin einer großen Koalition kann Merkel so tatsächlich kaum werden, es sei denn, die SPD wäre wahnsinnig nüchtern genug, ihren Wahlhelden Schröder und damit auch sein Junktim für die Teilhabe an der Macht beiseite zu räumen.

Auf seine brüske Weise hat Schröder viel bewirkt, nur nicht zu seinem Nutzen. CDU und CSU, die beiden Parteien mit abgegrenztem Einsatzgebiet und der einen Fraktion, müssen jetzt schon aus Gründen der Selbstachtung Merkel die Chance geben, eine Regierung zu bilden. Dabei hilft, dass Schröder so beharrlich die Grünen gerempelt hat, bis diese in Richtung anderer offener Arme zu stolpern begannen. Fischers konditionierter Rückzug von allen Spitzenämtern im trotz allem wahrscheinlicheren Oppositionsfall enthält eine öffnende Klausel: An ihm soll eine Neuausrichtung nicht scheitern. Doch mitmachen würde er unter Umständen schon – vielleicht als eine Art gewissensgrüner Oppositionsführer einer spannungsreichen Regierung.

Spannungsreich? Stabil müsse die Regierung jetzt sein, um das Land aus der Krise zu führen, versehen mit einer tragfähigen Mehrheit – auch das war für den Präsidenten ein Grund, Neuwahlen auszurufen. Diesem Ziel ist er nicht näher gekommen. Womöglich steht Köhler bald vor einer neuen, schwerwiegenden Entscheidung, falls eine Mehrheitskoalition nicht zu Stande kommt: von zwei Minderheitenkanzlerkandidaten den mit der relativ stärksten Bundestagsmehrheit ins labile Amt zu lassen, was er nach seiner eigenen Logik kaum könnte – oder abermals Neuwahlen auszurufen, was einem Offenbarungseid gliche. Damit aber wäre dem Volk nun wirklich kein bisschen gedient. Niemand sollte wagen, es darauf ankommen zu lassen.

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