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In Messing schon verewigt. Winfried Kretschmann ist der erste grüne Ministerpräsident Deutschlands.

© dapd

Winfried Kretschmann: Schwarze Stimmen für grünen Ministerpräsidenten

Winfried Kretschmann wurde mit zwei Stimmen aus der Opposition zum neuen Ministerpräsidenten Baden-Württembergs gewählt. Eine Amtsübergabe unter dem Bild von Adenauer.

Das Messingschildchen mit der Aufschrift „Ministerpräsident Stefan Mappus“ ist bereits ausgetauscht, als der CDU-Politiker zum zweiten Mal binnen einer Stunde Zimmer 311 des Stuttgarter Parlaments betritt. Über ein Jahr war es an Plenartagen sein Rückzugsraum, ein Hinterzimmer der Macht. Nun weist das Türschild, bei dem in der Eile der Vorname vergessen wurde, einen neuen Machthaber aus: „Ministerpräsident Kretschmann“.

Doch bevor er tatsächlich vollzogen ist, der Wechsel nach fast 58 Jahren CDU-Vorherrschaft, sieht ein ungeschriebenes Gesetz eine „Amtsübergabe“ in Zimmer 311 vor. Eigentlich gibt es nichts zu übergeben, der Schreibtisch ist aufgeräumt, an der Wand hängt ein Bild von Konrad Adenauer, dem ersten CDU-Bundeskanzler. Es ist eher ein symbolischer Akt. Winfried Kretschmann klopft an die Tür, die bereits seinen Namen trägt. Mappus öffnet. Minuten später geht die Tür wieder auf, Mappus eilt davon, begleitet von seinem Büroleiter und seinen Leibwächtern. Dann tritt Kretschmann aus dem Zimmer. Er kommt nicht weit, Kameras versperren den Weg. „Wie fühlen Sie sich?“, lautet die erste Frage. „Gut“, sagt er lächelnd, „sehr gut“. Die Tür hinter ihm steht offen.

Eine knappe Stunde zuvor, als der neue Landtagspräsident Willi Stächele (CDU) Punkt elf Uhr die Landtagssitzung eröffnet, muss sich Kretschmann noch den Schweiß von der Stirn wischen. Viel war zuletzt spekuliert worden: Würden bei der Postenvergaben übergangene Parteifreunde oder Stuttgart-21-Fans in den Reihen des Koalitionspartners SPD ihre Zustimmung verweigern?

71 Abgeordnete hat Grün-Rot, 70 Stimmen braucht er für die absolute Mehrheit. Nur einen Abweichler kann sich die neue Koalition leisten. Einige Abgeordnete in den Reihen von SPD und Grünen, die als Wackelkandidaten galten, hatten mit dem Gedanken gespielt, zu ihrer Entlastung bei einer möglichen Pleite ihren mit dem Namen „Kretschmann“ ausgefüllten Wahlzettel mit dem Handy in der Wahlkabine abzulichten. Am Vortag, bei der Wahl von Stächele zum Landtagspräsidenten, hatte sich der Grünen-Abgeordnete Reinhold Pix bereits dieser vermeintlichen List bedient – mit möglicherweise ungeahnten Folgen. „Ausdrücklich“ warne er vor dem Ablichten des Stimmzettels, weil damit die „Ungültigkeit“ der geheimen Wahl drohe, sagt Stächele zu Beginn der Sitzung. Ein Abgeordneter nach dem anderen wirft seinen Stimmzettel in eine schwarze Wahlurne, die ausgerechnet vor Mappus aufgebaut ist. Der 45-Jährige hat sich in die erste Reihe gesetzt, damit er als einer der Ersten dem Nachfolger gratulieren kann.

Als Stächele das Ergebnis verkündet, springen die Abgeordneten von Grünen und SPD laut jubelnd auf, Kretschmanns Frau Gerlinde reckt auf der Zuschauertribüne triumphierend die Arme in die Höhe. Es ist ein Augenblick, den sich die Ökopartei vor 31 Jahren, als sie erstmals in den Landtag einzog, nicht hat vorstellen können. Nur Kretschmann selbst bleibt sitzen, als müsse er das gute Ergebnis langsam sacken lassen: 73 Ja-Stimmen – damit mindestens zwei aus dem Lager von Schwarz-Gelb. „Es gibt wahrscheinlich bei der CDU einige, die seit knapp 60 Jahren gewöhnt sind, bei Ministerpräsidenten-Wahlen mit Ja zu stimmen“, ätzt später FDP-Fraktionschef Hans-Ulrich Rülke.

Kretschmann sagt, er sehe das überwältigende Votum als Auftrag, als Ministerpräsident zusammenzuführen. Kurz nach der Vereidigung tritt er vor das Landtagsgebäude, um sich von Stuttgart-21-Gegnern, feiern zu lassen. „Oben bleiben“ schallt es ihm entgegen. Viele alte Weggefährten sind gekommen, um den letzten Schritt von Kretschmanns langem Marsch bis an die Spitze des Landes mitzuverfolgen. Pioniere wie Elmar Braun, der 1991 in Maselheim zum ersten grünen Bürgermeister gewählt wurde, oder Elsbeth Mordo, die 1980 zur Gruppe der ersten Grünen-Abgeordneten im Landtag gehörte. Auch Erhard Eppler ist da, der große alte Mann der Südwest-SPD, der einst den Begriff „wertkonservativ“ geprägt hat, der nun vor allem mit Kretschmann verbunden wird. Der für den früheren CDU-Regierungschef Erwin Teufel, mit dem sein grüner Nach-Nach-Nachfolger so oft verglichen wird, reservierte Platz bleibt dagegen frei.

Überraschend fehlen auch die beiden katholischen Landesbischöfe – was nicht nur wegen Kretschmanns Nähe zur Kirche einer Einladungspanne geschuldet sein dürfte. Sein Amt nimmt er mit der Formel „so wahr mir Gott helfe“ an – während sechs von 14 Kabinettsmitgliedern bei ihrer Vereidigung am Nachmittag darauf verzichten. Zu Zeiten der CDU-Herrschaft hatte schon ein einzelner Verzicht auf die Gottesformel fast zu einer kleinen Regierungskrise geführt.

Doch nun brechen neue Zeiten an, so sehen es zumindest die Grünen. Die eigens angereiste Bundeschefin Claudia Roth sagt, nun ändere sich „auch etwas im Parteiengefüge“. Von einem „tiefen Eingriff“ schwärmt auch Rezzo Schlauch, der frühere Vorsitzende der Bundestagsfraktion: „Wenn ich CDU oder SPD wäre, würde ich mich ins stille Kämmerlein zurückziehen und mir mal Gedanken machen.“ Und Kretschmann selbst denkt am Abend schon mal vor für eine ähnliche Entwicklung im Bund: Im ZDF befeuert er die Debatte um die Benennung seines alten Weggefährten Joschka Fischer als grüner Kanzlerkandidat 2013: „Ich glaube nicht, dass er es machen wird. Aber ich fände es attraktiv.“ (mit dpa)

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