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Politik: „Wir haben Südamerika nie aus dem Blick verloren“

US-Außenpolitiker Tom Shannon über die soziale Frage, ideologische Vorbehalte und Bushs Wettbewerb mit Hugo Chavez

Herr Shannon, vielen erscheint die US-Lateinamerikapolitik widersprüchlich und konfus. Aus Ihrer Sicht: Welche Strategie verfolgt die Bush-Administration? Gibt es überhaupt so etwas wie eine Idee, ein Konzept für den Südkontinent?

Ich denke schon. Wir haben sehr früh erkannt, dass die Hinwendung der Region zu Demokratie und freier Marktwirtschaft bei den Menschen enorme Erwartungen weckt. Die große Herausforderung besteht darin, dass Demokratie und freie Marktwirtschaft sich nun als in der Lage erweisen müssen, die riesigen sozialen Probleme der Region zu lösen, Fragen der Armut, der Ungleichheit und des sozialen Ausschlusses. Deshalb haben wir von Anfang an versucht, demokratische Institutionen zu stärken, den Wohlstand zu fördern, in Menschen zu investieren, damit sie die Fähigkeiten und Fertigkeiten erlangen, die es ihnen erlauben, von den ökonomischen Möglichkeiten zu profitieren, und, schließlich, die Sicherheit des demokratischen Staates zu garantieren. Eine Agenda, die übrigens ganz im Einklang mit dem steht, was auf den Amerikagipfeln und seitens der Organisation der Amerikanischen Staaten (OAS) an Entwicklungszielen ausgegeben wird.

Gleichwohl war die Aufmerksamkeit der USA zuletzt auf ganz anderes gerichtet. War es ein Fehler, sich auf Irak, Iran, Nordkorea zu konzentrieren, als Lateinamerika begann, eigene Wege zu gehen?

Wir haben Lateinamerika nie aus dem Blick verloren. Trotz 9/11, trotz Afghanistan- und Irakkrieg. Kein Präsident in der Geschichte der Vereinigten Staaten hat Lateinamerika häufiger besucht als George W. Bush: achtmal. Wir haben die Finanzhilfen verdoppelt. Wir haben Freihandelsabkommen mit Ländern abgeschlossen, die zwei Drittel des südamerikanischen Bruttosozialprodukts repräsentieren. Was tatsächlich passiert, ist vielmehr Folgendes: Nicht die USA – der Rest der Welt hat den Kontinent aus den Augen verloren. Die EU ist damit beschäftigt, die EU zu bauen, Asien hat genug mit dem erstarkenden China zu tun. Mit anderen Worten: Es gibt sehr viele große Herausforderungen, die um unsere Aufmerksamkeit konkurrieren. Aus unserer Sicht ist, was wir in Lateinamerika erleben, eine wirklich dynamische und positive Entwicklung: Die Demokratien konsolidieren sich, und sie sind offen für mehr Partizipation, auch von Gruppen und Menschen, die historisch bisher ausgeschlossen waren, wie die indigenen Völker, die Afro-Latinos und die extrem Armen.

Ihr positives Urteil – gilt das auch für Venezuela, Bolivien, Nicaragua?

Im Großen und Ganzen: ja. Hugo Chavez erfreut sich breiter Unterstützung in Venezuela, ebenso wie Evo Morales in Bolivien. Beide spiegeln etwas davon wieder, dass das politische System ihrer Länder zuvor von vielen als nicht ausreichend repräsentativ und unfähig empfunden wurde, die Bedürfnisse der Bevölkerung zu befriedigen. Was uns wichtig ist, was wir immer und immer wieder betonen im Verhältnis zu den Ländern der Region: Wir haben keine ideologischen Vorbehalte. Ob ein Land links ist oder mittig oder rechts, ist nicht wichtig. Ausschlaggebend ist: Ist es demokratisch? Haben wir die gleiche Auffassung von einer funktionierenden Wirtschaft? Und hat das Land überhaupt ein Interesse daran, unser Partner zu sein?

Als Bush Anfang des Monats zu seiner Reise aufbrach, verkündete er ein Hilfsprogramm und diente sich den Benachteiligten in Mittel- und Südamerika als Freund und Helfer an. Dass Armut und Ungleichheit die Hauptgeißeln der Region sind, ist seit Jahrzehnten bekannt – warum haben die Vereinigten Staaten so lange gebraucht, das zu begreifen?

Wir haben nicht so lange gebraucht, das zu begreifen – diese Einsicht lag schon der „Allianz für Fortschritt“ von Präsident John F. Kennedy zugrunde. Wir haben lange gebraucht, die richtigen Worte zu finden. Worte, die die Sorgen und Nöte der Menschen vor Ort wiederspiegeln. Während wir zum Beispiel von Lösungen sprechen, redet unser Gegenüber von Problemen – das macht es weniger leicht, sich zu verstehen. Aber jetzt sind wir auf einem guten Weg.

Die USA haben die Lateinamerikahilfe unter Bush auf 1,6 Milliarden Dollar verdoppelt. Ist das nicht immer noch zu wenig? Das kostet der Irakkrieg Woche für Woche.

Das stimmt. Und wenn die direkten Finanzhilfen alles wären, was wir leisten, hätten Sie Recht: Das wäre nicht genug. Aber es fließt ja sehr viel mehr Hilfe in die Region. Durch die Freihandelsabkommen zum Beispiel: 85 Prozent der lateinamerikanischen Exporte in die USA gelangen zollfrei in unser Land. Unsere Investitionen belaufen sich auf inzwischen 350 Milliarden Dollar in der Region. Die Überweisungen von in den USA lebenden und arbeitenden Migranten an ihre Verwandten in diesen Ländern summieren sich auf noch einmal 45 bis 50 Milliarden Dollar. Und wir haben den fünf ärmsten Ländern der Region – also Bolivien, Honduras, Nicaragua, Guayana und Haiti – insgesamt 17,2 Milliarden Dollar Schulden erlassen.

Ist das, was wir derzeit erleben, eine Art Wettbewerb um die richtigen Lösungen für Lateinamerikas Probleme – und haben die USA den gegen Chavez` Venezuela nicht schon verloren?

Wir haben keine Konkurrenz zwischen den USA und Venezuela. Wir haben einen Wettbewerb zwischen zwei Herangehensweisen an das Thema Entwicklung. Unser Weg wird nicht nur von uns, sondern von der Mehrheit der Länder der Region für richtig gehalten. Chavez’ Herangehensweise ist ein Rückschritt zur Politik der 60er Jahre: eine zentralisierte autoritäre politische Herrschaft, eine zentral gelenkte Wirtschaft, ein großer öffentlicher Sektor, wenig Industrie und Dienstleistungen. Das mag in Venezuela, auf Grund einiger Eigenheiten Venezuelas, vor allem der reichen Ölvorkommen, funktionieren. Aber nur wenige Länder der Region teilen diese Eigenheiten. Am Ende wird es so sein, dass der Wettbewerb nicht ideologisch entschieden wird, sondern durch die Ergebnisse, die er zeitigt – und zwar sehr bald. Und wir sind zuversichtlich, dass unser Ansatz sich als der Erfolg versprechendere erweisen wird, wenn es um soziale und wirtschaftliche Entwicklung geht.

Das Gespräch führte Michael Schmidt.

Thomas A. Shannon, 49, ist seit dem 7. Oktober 2005 der für Lateinamerika zuständige Abteilungsleiter des US-Außenministeriums. Er gilt als gemäßigter als seine Vorgänger.

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