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Politik: „Wir müssen der Vertreibung vorbeugen“

Der belgische Premierminister Leterme über Flüchtlinge aus Nordafrika und die Krise des Euro

Herr Leterme, die Kämpfe in Libyen dauern an, die gesamte Situation in Nordafrika ist instabil. Die Europäische Union beschäftigt sich heute beim Gipfel in Brüssel mit der Lage in Libyen. Muss sich die EU darauf einrichten, mehr Immigranten aus dieser Region aufzunehmen als bisher?

Wir müssen vor allem einer Vertreibung der Bevölkerung vorbeugen und auf die humanitären Bedürfnisse vor Ort reagieren, vor allem in Libyen. Catherine Ashton, die EU-Außenbeauftragte, wird uns Vorschläge vorlegen, wie wir humanitäre Hilfe leisten und zu einer möglichst raschen Rückkehr der Flüchtlinge in ihre Herkunftsregionen beitragen können. Meine Regierung hat zu diesem Zweck gerade eine Million Euro für das Internationale Komitee vom Roten Kreuz freigegeben. Zudem werden hunderte Flüchtlinge, vor allem aus Mali und Ghana, mit einer belgischen Militärmaschine wieder in ihre Heimat zurückgebracht. Außerdem muss die Überwachung der EU-Außengrenzen verstärkt werden. Das haben wir getan, indem wir der EU-Grenzschutzagentur Frontex Polizisten zur Verfügung gestellt haben.

Italien fordert, dass die Staaten im Norden der EU – darunter Belgien – mehr Flüchtlinge aus Nordafrika aufnehmen. Ist die Forderung berechtigt?

Glücklicherweise lässt sich gegenwärtig in Belgien nur ein sehr begrenzter Anstieg derartiger Asylgesuche feststellen. Unsere Priorität, um es noch einmal zu sagen, liegt in der Verbesserung der humanitären Lage vor Ort.

Der EU-Gipfel an diesem Freitag könnte eine Gelegenheit bieten, die „Union für das Mittelmeer“ wiederzubeleben, die vom französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy 2008 aus der Taufe gehoben worden war. Allerdings hat diese Institution in der Vergangenheit faktisch wenig zur zwischenstaatlichen Kooperation über das Mittelmeer hinweg beigetragen. Hat die Mittelmeer-Union also wirklich eine zweite Chance verdient?

Eines ist sicher: Wir befinden uns an einem historischen Wendepunkt, und die EU muss der Rolle gerecht werden, die ihr die geografische Nähe zu Nordafrika auferlegt. Ich habe mehrmals gefordert, dass Catherine Ashton und ihr Europäischer Auswärtiger Dienst (EAD) sich so entfalten können, wie es der EU-Vertrag von Lissabon vorsieht. Ich verstehe, dass die Nachbarschaft der europäischen Mittelmeeranrainer mit dem Norden Afrikas von großer Intensität geprägt ist. Dies habe ich bei europäischen Gipfeltreffen häufig gespürt. Das Ziel einer Mittelmeer-Union ist lobenswert, sofern sich dadurch demokratische Reformen über eine stärkere wirtschaftliche und politische Verflechtung zwischen Nord und Süd verankern lassen. Deshalb unterstütze ich den Vorschlag, dass die Osteuropabank und die Europäische Investitionsbank zusätzlich zwei Milliarden Euro für Projekte in der Region erhalten.

Heute beraten die Staats- und Regierungschefs der Euro-Zone in Brüssel auch über den „Pakt für Wettbewerbsfähigkeit“, mit dessen Hilfe Pleiten wie in Griechenland und Irland verhindert werden sollen. In diesem Pakt ist auch eine stärkere Angleichung der Unternehmenssteuern unter den Euro-Ländern vorgesehen. Was halten Sie davon?

Belgien befürwortet die Idee einer verstärkten wirtschaftlichen Kooperation. Wir müssen dem wirtschaftlichen Teil der Wirtschafts- und Währungsunion Substanz verleihen und zu einer echten Konvergenz kommen, wie sie von Bundeskanzlerin Angela Merkel befürwortet wird. Ich unterstütze sie bei diesem Vorhaben voll und ganz. Die Unternehmenssteuern stellen dabei ein Feld für eine Annäherung dar, aber nicht das einzige. Man muss die Gemeinschaftsmethode der EU beachten und die Eigenheiten jedes einzelnen Mitgliedstaates im Auge behalten.

Es ist nun fast ein Jahr her, dass die EU und der IWF Griechenland einen Kredit über insgesamt 110 Milliarden Euro gewährt haben. Griechenland ächzt weiter unter der Schuldenlast. Kommt aus Ihrer Sicht in der gegenwärtigen Situation eine Umstrukturierung der griechischen Schulden in Betracht?

Wir sollten uns zuerst vor Augen führen, dass die Regierung und die Bevölkerung in Griechenland ein mutiges Programm schultern. Ich erinnere mich sehr gut an die Sitzungen, die wir vor einem Jahr abgehalten haben, um einen Bankrott in Griechenland abzuwenden. Es scheint mir logisch, dass die Staaten, die Unterstützung aus einem europäischen Rettungsfonds erhalten, im Gegenzug auch eine ganze Reihe von Forderungen erfüllen müssen. Griechenland kommt gegenwärtig sämtlichen Forderungen nach – und zwar unter der strikten Aufsicht der EU-Kommission, des Internationalen Währungsfonds und der Europäischen Zentralbank. Griechenland verlangt von der Bevölkerung erhebliche Anstrengungen. Sie müssen aber auch tragbar sein.

Soll der gegenwärtige EU-Krisenfonds, der EFSF, oder sein Nachfolger ab dem Jahr 2013, der ESM, über die Möglichkeit verfügen, Staatsanleihen krisengeschüttelter Euro-Staaten aufzukaufen?

Das ist eine Frage, die in Arbeitsgruppen diskutiert wird, die von den Staats- und Regierungschefs der EU eingerichtet worden sind. Ich glaube, dass der Rettungsfonds so wirkungsvoll wie möglich gestaltet werden muss.

Das Gespräch führte Albrecht Meier.

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