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Politik: Wir Schaulustigen

Von Christiane Peitz

Von Christiane Peitz Nicht schlecht! 18 000 Gäste. 1115 Filmvorführungen. Vier Deutsche im Wettbewerb. Der Filmmarkt doppelt so groß wie im Vorjahr. Die schöne, kluge Charlotte Rampling ist Jurypräsidentin, Sigourney Weaver schreitet heute über den roten Teppich, Vin Diesel kommt, George Clooney wird der amerikanischen Ölmafia die Leviten lesen, und Michael Winterbottom bringt seinen Guantánamo-Film mit.

Berlin am Tag der Berlinale-Eröffnung: eine Stadt im Festival-Fieber. Ab morgen sind die Kinos rappelvoll, die Hotels ausgebucht, die Kneipen rund um den Potsdamer Platz machen prima Geschäfte. Und wie jedes Jahr sind die Fans überzeugt: Diesmal wird es besonders toll.

Fünf Jahre leitet Dieter Kosslick die Berlinale nun. Er hat sie gründlich reformiert, dem deutschen Film den Rücken gestärkt, den Konkurrenzkampf der Festival-Sektionen befriedet, dem Nachwuchs einen Talent-Campus geschenkt. Und er hält die Balance zwischen Glamour und Politik. Gut, manchen Hollywood-Star reizt ein Trip in den deutschen Winter immer noch nicht, aber was soll’s. Wichtiger ist, und aufregender: Die Berlinale ist das richtige Festival zur rechten Zeit am rechten Ort. Berlin, diese spröde, quicklebendige Stadt feiert ein Bilderfest in Zeiten des Bilderkriegs.

In diesen Tagen erleben wir die zerstörerische Macht der Zeichen: Karikaturen, die provozieren, Fundamentalisten, die Fahnen verbrennen, den freien, offenen Streit verweigern und stattdessen morden. Dem Krieg der Vorurteile und Ressentiments setzt die Berlinale die Wirkungsmacht der Bilder entgegen: Sie ist so frei. Als visuelles Manifest erhebt sie Einspruch gegen die grobe, gefährliche Aufteilung der globalen Gemeinde in eine westliche und eine islamische Welt.

Und sie setzt eine Bilderflut in Gang, die die Krisen und Konflikte der Gegenwart nicht verschweigt, sondern erhellt. Die uns verstört und betört, weil sie bedeutet: Seht her, es sind Menschen. Einzelne, einzigartige Menschen mit unverwechselbaren Schicksalen, die die Geschicke der Menschheit bestimmen. Hier sind sie, in Großaufnahme, larger than life. Wir verstehen die Welt nicht mehr? Aber wir sind Schaulustige: Die Augen mögen uns übergehen, aber sie gehen uns dabei auch auf. Im Kino, diesem großartigen Kommunikationsmittel, haben wir die Chance, uns selbst zu verstehen – und uns mit anderen zu verständigen.

Das Publikum wird sich unterhalten. Und es wird sich leidenschaftlich die Köpfe heiß reden: über Gewalt und Folter, über die Toleranz und ihre Grenzen, über türkische Kids in Neukölln, die Stasi in der DDR, die Migranten in Europa, den Alltag in Iran. Von all dem erzählen die Festivalfilme.

Die deutschen Filme haben einen starken Auftritt. Die Regisseure mit den großen Namen, Oskar Roehler, Hans Christian Schmid, Dominik Graf und Detlev Buck präsentieren großes Erzählkino. Die Jungen zeigen Experimentierfreudiges, von der schrillen Satire bis zur nüchtern-dokumentarischen Annäherung an die Randfiguren der Gesellschaft. Lauter ernste, oft schwere Stoffe: Der deutsche Film, erfolgreich beim einheimischen Publikum wie auf dem internationalen Parkett, ist selbstbewusster geworden. Er hat den Mut, sich auch den Schattenseiten der Realität zu stellen. Seine Stars riskieren Blößen, emotionale, seelische Blößen. Sie sind so frei.

Um die Wirklichkeit zu begreifen, braucht man viel Geduld. Und noch mehr Fantasie. Vor uns liegen zehn fantastische Tage.

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