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Politik: Wir selbst in neuem Licht

Von Hermann Rudolph

Wussten Sie, was heute vor fünfzehn Jahren war? Vielleicht besteht die Pointe dieses Tages gerade darin, dass er schon so sehr vergessen ist. Ja, doch, am 20. Juni 1991 beschloss der Bundestag den Umzug nach Berlin. Selten hat eine Debatte die Republik so umgetrieben. Kaum je stand eine Entscheidung so auf der Kippe – neun Stimmen anders abgegeben, und Deutschland würde heute nicht von Berlin, sondern von Bonn aus regiert. Es macht den Rang dieser Entscheidung aus, dass sich längst niemand mehr vorstellen kann – erst recht nicht in diesen Tagen, da ganz Berlin,WM-halber, eine Wolke von Hochgefühlen ist –, dass sie anders ausgegangen wäre.

Im Rückblick nimmt sich diese Debatte in dem zum Parlament umgebauten Bonner Wasserwerk am Rheinufer, die gleich das Prädikat einer Sternstunde des Parlaments bekam, auch aus wie eine Geisterstunde. Kaum noch nachvollziehbar, weshalb da so erbittert gestritten wurde. Nichts von dem, was damals befürchtet wurde, ist ja eingetreten. Weder hat der preußisch-deutsche Nationalismus sein Haupt erhoben noch ist die Bundesrepublik zum Zentralstaat mutiert noch hat diese Entscheidung sie in unabsehbare Wirren gestürzt. Alles Gedankengespinste, die damals umgingen, alle längst vergangen, als wären sie nie gewesen.

Allerdings ist auch nicht eingetreten, was viele sich erwartet haben. Statt als Metropole stürmisch zu wachsen, wie die Experten prognostizierten – auf fünf, sechs und noch mehr Millionen Einwohner rechneten sie Berlin hoch –, stagniert die Bevölkerung, lahmt die Wirtschaft. Keine Rede auch davon, dass die Stadt – wie erhofft – die Ungleichgewichte zwischen neuen und alten Ländern ausgleichen und überhaupt die Politik herausfordern werde. Gewiss, Berlin hat eine eminente Anziehungskraft entwickelt, für die Jungen und für die Ruhestands-Alten, für die politischen Stellwerker und ihr Umfeld. Aber kann man sagen, dass der Ausgang der heftigen Hauptstadtdebatte, die dann doch, wie der Bonner Korrespondent dieser Zeitung damals stöhnte, als „Elfmeterschießen“ endete, für die ganze Republik ein Gewinn war?

So ganz leicht ist das nicht zu beantworten. Die Hauptstadt Berlin hat zwar nicht die Republik geändert, aber ihr immerhin – mit der besucherbelagerten Reichstagskuppel und der Weitläufigkeit des Regierungsviertels – ein neues Gesicht, ein anderes Gefühl von sich selbst gegeben. Es hängt damit zusammen, dass es einen Unterschied macht, wenn sich die politischen Kraftlinien der Republik nicht mehr in der idyllischen Mittelstadt am Rhein im Weichbild der alten Bundesrepublik bündeln, sondern in einer Großstadt, am Platz der alten Hauptstadt, mitten in den Aufstiegs- und Bruchzonen der deutschen Geschichte. Es entspricht einer Bundesrepublik, die sich ihrer geteilten Nachkriegszeit entwindet, im Inneren ein neues, entkrampftes Selbstverständnis gewinnt und nach außen die Rolle einer europäischen Mittelmacht spielt.

Aber die Antwort auf die Frage, ob die Hauptstadt Berlin gut für die Republik ist, kann nur die Zukunft geben. Sie hängt ab davon, wie ein über Jahrzehnte hauptstadtentwöhntes Land mit seiner Hauptstadt umgeht, aber auch von dem, was Berlin der Republik gibt. Es ist ja schön, dass nun alle gern hier sind,die Regierung, die Parteien und ihr Tross. Doch das reicht nicht aus: Die Republik und Berlin müssen die Gestaltung ihres Verhältnisses als politische Aufgabe annehmen.

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