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Politik: „Wir sind zu Ihnen gekommen ...“

Genscher und die Balkonszene von Prag

Von Matthias Schlegel

Ungezählte Statements sind aus dem politischen Leben von Hans-Dietrich Genscher überliefert. Aber vor allem mit einem Satz, ausgerechnet einem unvollendeten, wird er in die Geschichte eingehen. „Wir sind zu Ihnen gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass heute Ihre Ausreise...“ Der Rest – er hatte gelautet „... möglich geworden ist“ – geht im Jubel der Menschenmenge im Garten der bundesdeutschen Botschaft in Prag unter. Eben noch haben sie dem Mann oben auf dem Balkon des Palais Lobkowicz hochkonzentriert an den Lippen gehangen. Nun löst sich plötzlich die Spannung, die sich bei den Botschaftsflüchtlingen in Tagen und Wochen auf ein nahezu unerträgliches Maß gesteigert hatte. Es ist der 30. September 1989, 18.58 Uhr. In dieser Minute entscheidet sich nicht nur das Schicksal von rund 4000 DDR-Bürgern, die in der Botschaft auf der malerischen Prager Kleinseite ausharren. Es ist ein weiterer Stein, der aus der Mauer zwischen Ost und West herausgeschlagen wird. 20 Tage zuvor war die ungarisch- österreichische Grenze geöffnet worden. 40 Tage später würde die Berliner Mauer fallen.

Nach hektischen Verhandlungen mit der DDR sowie mit seinen Amtskollegen aus den USA, Frankreich, Großbritannien und der Sowjetunion hatte Genscher die entsprechende Zusage der ostdeutschen Seite erhalten. Es war eine Kehrtwende in der Strategie der DDR im Umgang mit den Botschaftsflüchtlingen. Kurz vor dem 40. Jahrestag am 7. Oktober wollte man vermeiden, dass Szenen aus der katastrophal überfüllten Prager Botschaft die eigenen Jubelbilder trübten.

Genscher, der sich nach seinem Herzinfarkt vom 20. Juli 1989 kaum Schonung gegönnt hatte, musste auf diesem Balkon auch noch eine andere Nachricht verkünden. „Ich habe auch gesagt: Ich bitte um Verständnis, der erste Zug fährt in zwei Stunden. Bitte zuerst Familien mit Kleinstkindern berücksichtigen.“ Und dann musste er jene Mitteilung loswerden, die eine Bedingung der anderen Seite gewesen war: Die Züge würden durch die DDR fahren. „Es passierte, was ich vorausgesehen hatte. Nein, niemals, riefen viele, denen kann man nicht trauen“, erinnert er sich. Neben Genscher auf dem Balkon standen Leute aus dem Auswärtigen Amt und dem innerdeutschen Ministerium. „Ich sagte dann noch, dass in jedem Zug zwei Beamte von uns mitfahren würden. Die hatte ich sogar mit Dienstgrad benannt. Eigentlich wollte ich als stärkste vertrauensbildende Maßnahme selbst mitfahren. Aber ich wurde dringend gebeten, davon Abstand zu nehmen.“

Vor ihm standen damals zumeist junge Leute, Anfang zwanzig. So alt war Genscher auch gewesen, als er die DDR verließ. Und er erinnert sich heute seiner damaligen Gefühlslage: „Ich war auf diesem Balkon zutiefst demütig. Wenn Sie so etwas erleben, haben sich alle Mühen, Enttäuschungen und Schwierigkeiten ausgezahlt.“ Matthias Schlegel

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