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Politik: „Wir überschreiten alle Schmerzgrenzen“

Der Sozialrichter Jürgen Borchert benennt Gründe für die Armut von Familien – und fordert eine stärkere Belastung von Kinderlosen

In Deutschland gibt es ein seltsames Paradoxon: Je weniger Kinder geboren werden, desto mehr landen in der Armut. Die Geburtenzahl hat sich seit 1965 fast halbiert, dennoch leben jetzt sechzehn Mal so viele Kinder in Sozialhilfe. Was sind die Gründe dafür?

Vor allem unsere Steuer- und Sozialsysteme. Insbesondere bei letzteren ist es so, dass die Beiträge keine Rücksicht auf die Leistungsfähigkeit nehmen. Anders als bei der Lohnsteuer gibt es keine Freibeträge. Das führt dazu, dass eine Familie mit 30 000 Euro Einkommen genauso hohe Beiträge zahlen muss wie der Kinderlose mit 30 000 Euro. Seit 1957 hat sich die Beitragslast aber rund verdreifacht. Die Folge ist, dass ein Facharbeiter mit zwei Kindern heute netto oft nicht einmal mehr das Existenzminimum erreicht.

Das Kindergeld ist doch auch kräftig gestiegen. Reicht das nicht?

Da hat es eine gravierende Änderung gegeben: Seit 1996 ist das Kindergeld nur noch ein Surrogat für den Freibetrag. Das heißt: Der Staat besteuert – verfassungswidrig – das Existenzminimum des Kindes und kompensiert diesen Verfassungsverstoß dann mit dem Kindergeld. Die Politiker stehen so in den Spendierhosen da, obwohl sie die Familien bestehlen.

Liegt der Grund für die Verarmung von Familien nicht auch in der fehlenden Vereinbarkeit von Familie und Beruf?

Das ist das seltsamste Phänomen: Die Familienverarmung ging einher mit einem kontinuierlichen Anstieg elterlicher Erwerbstätigkeit auf mittlerweile durchschnittlich 70 Wochenstunden. Die Erwerbsquote von Müttern ist seit 1960 um 50 Prozent gestiegen. Gegen den behaupteten Zusammenhang sprechen die neuen Bundesländer: Trotz flächendeckender Kinderbetreuung haben sie die weltweit niedrigste Geburtenrate. In Baden-Württemberg, Bayern und Niedersachsen gibt es umgekehrt den geringsten Deckungsgrad bei der Kleinstkinderbetreuung – und die meisten Geburten.

Weshalb bekommen die Deutschen denn dann immer weniger Kinder?

Die meisten Kinder finden wir bei beamteten Lehrerinnen. Das ist ein Beruf mit sicherer Perspektive und großer zeitlichen Flexibilität. Unter solchen Bedingungen sind junge Leute sofort bereit, das Abenteuer Elternschaft auf sich zu nehmen. Doch unsere Arbeitswelt entwickelt sich in eine ganz andere Richtung.

Und es gibt immer mehr Kinderlose…

Der Anteil lebenslang Kinderloser lag beim Geburtsjahrgang 1935 bei neun Prozent. Heute sind es um die 30 Prozent. Eine massive Ausweitung des Familienlastenausgleichs wäre nötig gewesen. Stattdessen sind die Leistungen seit 1961 rückläufig. Und die Umverteilung von Familien an kinderlose Senioren nimmt gewaltig zu, deren Renten, Gesundheits- und Pflegeversorgung ja ausnahmslos von den Kindern anderer Leute aufgebracht wird.

Jetzt steigt die Mehrwertsteuer, und die müssen alle bezahlen. Ist das nicht besser als höhere Sozialversicherungsbeiträge?

Leider nein. Erstens belasten Verbrauchssteuern Familien unweigerlich härter als Singles. Zweitens führt die Entlastung bei den Sozialbeiträgen dazu, dass der Einkommensabstand zwischen Familien und Singles rasant wächst. Bei einem Haushaltseinkommen von 35 000 Euro werden der vierköpfigen Familie durch die höhere Mehrwertsteuer ab 2007 pro Jahr etwa 430 Euro mehr abverlangt, dem Single nur 200 Euro. Der kann aber das Nettoplus von 350 Euro Beitragssenkung ganz für sich verbrauchen, während es sich bei der Familie durch vier teilt. Pro Kopf vergrößert sich also der Einkommensabstand pro Jahr um 400 bis 500 Euro – zu Lasten der Familie. 1999 hat das Bundesverfassungsgericht übrigens klargestellt, dass bei einer Verbrauchsteuererhöhung auch die Freibeträge für das familiäre Existenzminimum angepasst werden müssen. Davon hört man aber nichts.

Was müsste die Politik denn tun, um Familien zu entlasten?

Ganz einfach: die Karlsruher Urteile strikt befolgen und Kindererziehung in der Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung als echten geldwerten Beitrag berücksichtigen. Im Übrigen gilt es, die Finanzierung der Soziallasten rigoros an der Leistungsfähigkeit auszurichten. Heute läuft die Umverteilung primitiv, brutal und gnadenlos von unten nach oben.

Was bedeutet das konkret?

Zunächst brauchen wir eine Reform der Einkommenssteuer, die hier wieder Gerechtigkeit schafft. Dann sollte die Finanzierung der Sozialversicherungen als Beitrag an die Einkommenssteuer gekoppelt werden – etwa so, wie das beim Solidaritätszuschlag gemacht wird. Das bedeutet: Es braucht eine Volksversicherung unter Einbeziehung aller Personengruppen und aller personengebundenen Einkommen.

Und wenn die Reform nicht so groß ausfällt? Was ließe sich beispielsweise mit dem Rentensystem machen?

Hier müssten wir mindestens den Kindesunterhalt von der Beitragsgrundlage abziehen. Und alle demografisch bedingten Leistungskürzungen müssten dort versammelt werden, wo die Ursachen liegen: vor allem bei den Kinderlosen.

Sie wollen Kinderlosigkeit bestrafen?

Wieso? Kinderlosigkeit ist zu drei Vierteln für die demografische Alterung und die daraus resultierenden Probleme verantwortlich. Wir können doch Eltern mehrerer Kinder für diese Entwicklung nicht mithaften lassen.

Viele sind nicht freiwillig kinderlos.

Die Quote biologischer Unfruchtbarkeit liegt bei sechs Prozent. 94 Prozent wollen keine Kinder oder bringen sie nicht rechtzeitig in ihrer Lebensplanung unter. Wenn wir aber die Freiheit für einen bestimmten Lebensentwurf von der Verantwortung für denselben entkoppeln, ist ein Gemeinwesen wie das unsere nicht mehr zu retten; es rieselt auseinander wie loser Sand. Deshalb ist es zwingend – und das wird über kurz oder lang auch aus Karlsruhe kommen –, dass die Konsequenzen der demografischen Entwicklung die treffen, die dafür verantwortlich sind. Das hat mit Bestrafung nichts zu tun.

Wie realistisch sind denn ihre Konzepte zur Familiengerechtigkeit? Wagt sich die große Koalition an so was heran?

Weil jeder erst einmal ans eigene Überleben denkt, packen Regierungen bei den kurzen Wahlperioden ungern heiße Eisen an. Aber die Probleme wachsen so rasant, dass wir noch in dieser Legislaturperiode alle Schmerzgrenzen überschreiten. Die Gesundheitsreform ist die erste große Nagelprobe. Kommt die verlogene Kopfpauschale, dann ist kein Retten mehr.

Die Fragen stellte Rainer Woratschka.

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