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Politik: Wir wollen nur spulen

Die Kassette wird 50. Die Kassette? Was ist das denn? Ein rechteckiges Plastikding mit zwei Rädchen und einem Band. Es hat eine Generation geprägt.

Was jüngere Menschen nicht wissen können, jedes Ding hat zwei Seiten, die Langspielplatte und auch die Musikkassette. Zum Bespielen fangen wir also an mit

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1. I HOPE THAT I GET OLD BEFORE I DIE – They might be giants

Wenn heute an dieser Stelle von Musikkassetten die Rede sein soll, jenen elektromagnetischen Tonträgern, die unsere Kindheit und Jugend, manchmal sogar weite Strecken unseres Erwachsenenalters begleitet, vor allem aber akustisch untermalt haben, so hat das damit zu tun, dass die Kassette 50 Jahre alt wird. Angeblich sogar schon sehr bald. Vielleicht auch erst im nächsten Jahr, auf den Markt geworfen wurde sie jedenfalls von der niederländischen Firma Philips. Und das vor ziemlich langer Zeit.

Wenn ich vorab außerdem erwähne, dass ich zur Generation jener gehöre, die über die im Internet kursierende Abbildung einer Musikkassette und eines Bleistifts samt der Unterzeile „Zusammenhänge, die unsere Kinder nie verstehen werden“ lächeln können, so geschieht dies deshalb, weil unser Geburtsjahr keinen unwesentlichen Einfluss auf das Verhältnis hat, das wir im Laufe unseres Lebens zu jener rechteckigen Plastikhülle mit zwei Rädchen und einem launischen Magnetband im Bauch entwickeln.

2. I'M FREE – Soup Dragons

Ich selbst habe die Erfindung der Musikkassette nicht als Befreiung erlebt, als Erlösung von der Pflicht, Songs auf tablettgroßen Tonbandspulen zu speichern – schlicht weil es mich zu dieser Zeit noch gar nicht gab. Ins Leben der Verbraucher trat die Musikkassette endgültig im Sommer 1963 mit der Präsentation des ersten Kassettenrekorders, dem „Taschen-Recorder 3300“ nämlich, im Rahmen der Internationalen Funkausstellung in Berlin. Das durchaus tragbare Gerät brachte Klänge hervor, gespeichert auf einem braunen Band, das nach Chemiekasten roch und über einen Filzwürfel glitt: die Stelle, an der der Tonkopf im Abspielgerät die Informationen auf zunächst zwei (Mono), später vier (Stereo) Tonspuren erfasste und zu Sprache und Musik werden ließ. Phänomenal.

Ich weiß nicht, wie es sich anfühlte, als die Menschheit noch dazu verdammt war, Alben in einer von Interpreten oder Komponisten oder Radio-DJs vorgegebenen Reihenfolge anzuhören, ohne selbst sampelnd eingreifen zu können. Dennoch ist die CD, Erbin der Langspielplatte, erst kurz vor Erreichen der Volljährigkeit in mein Leben getreten, so dass mich die Kassette prägende Jahre lang begleitet hat: als robuste Schwester des mimosenhaften Vinyls, das jeden Nadelschubser übel nahm, als mobiler Audiowall gegen die Welt, manchmal auch als Liebesbeweis von einer Komplexität, die ich erst richtig zu dechiffrieren gelernt habe, als die Kassette längst im Sterben lag.

Dennoch reichte die Gnade meiner späten Geburt nicht weit genug, um die massenhafte Verbreitung des Kassettenrekorders mit eingebautem Radio abzuwarten. Während der 70er Jahre war es unter Pubertierenden in Hessen noch Brauch, sich am Donnerstagabend im heimischen Wohnzimmer einzufinden und die kleine Aufnahmeöffnung am Kassettenrekorder möglichst dicht an den Radiolautsprecher zu pressen, währen auf hr3 die Hitparade International mit Werner Reinke lief, um sich aus dem Mitschnitt anschließend mehr oder weniger gelungene Tapes zu basteln.

Pubertierende fürchteten bei diesem Ritual vor allem zwei Störquellen: 1) die Stimme des Moderators über den ersten oder letzten Takten des Songs, 2) die lärmende Unterbrechung durch kleinere Geschwister. Ich könnte schwören, dass es irgendwo eine Aufnahme von Kim Carnes' Bette Davis' Eyes gibt, bei der sich im Refrain die Hand meiner großen Schwester auf meinem Hintern synkopisch über den Beat schiebt. 70er Jahre halt, crazy times.

3. I WON'T SHARE YOU - The Smiths

Mit dem Sony Walkman kam Anfang der 80er ein Gerät auf den Markt, das es Jugendlichen nicht nur ermöglichte, ihre auf Kassetten sortierte Lieblingsmusik vollends tragbar zu machen und sie auf Schritt und Tritt und ganz für sich allein zu hören. Der Walkman entband seine Besitzer auch vom Zwang, abfällige Kommentare der Eltern ignorieren zu müssen. Man hörte sie ja gar nicht erst.

Als weitere Innovation gelangten Kassettendecks in die Hifi-Märkte, die über den sogenannten Autoreverse-Modus verfügten und damit das Umdrehen von Kassetten überflüssig machten – was Konsequenzen für die romantische Praxis einer ganzen Generation hatte. Nie mehr aufhören müssen zu knutschen, weil die Anlage schweigt und schmatzende Zahnspangen die Magie des Augenblicks zerstören!

4. ALL THE LOVERS – Hugh Coltman

Ich weiß nicht, ob es die Zeichen der Zeit waren, oder ob es an meinem nunmehr geschlechtsreifen Alter lag, dass man rings um mich herum gegen Mitte der 80er Jahre anfing, einander mit Mixtapes zu bedenken. Wir sprechen hier nicht von rasch aufgenommenen LP-Raubkopien, sondern von liebevoll komponierten, durchdachten, arrangierten Kassetten, die mitunter sogar in bemalten und beklebten Hüllen steckten und als Liebespfand ausgetauscht wurden. Wie viele meiner Freunde damals zu Hause über Schaumgummiplatten verfügten, die Baumärkte für Fliesenleger vorrätig halten, um ihre Knie während der langen Stunden vor dem Kassettendeck zu schützen, habe ich erst Jahre später erfahren. Einige von ihnen haben nie stärkere Schmerzen durchlitten, nie größere Opfer erbracht als während der Adoleszenz.

An Mixtapes ließ sich, wenn man richtig hinhörte, die Intensität der Gefühle ablesen, die durch das Geschenk zum Ausdruck gebracht werden sollten. Wenig Gefahr bestand bei Kassetten, die nach 30 Minuten Laufzeit unvermittelt mitten im Song abbrachen oder quälend langen Leerlauf ließen, ehe die Seite zum Ende kam. Wo allerdings jedes Stück auf ein anderes aufbaute und das Arrangement einen Verlauf beschrieb, der aus einer Fülle von Alben den einen, einzigartigen Mix entstehen ließ, der noch heute, Jahre später, dazu führt, dass man im Anschluss an Monkey gone to heaven (Pixies) ganz selbstverständlich auf die Marimbaklänge von Moi je joue (Stereo Total) wartet, wenn dazu noch das Band eine halbe Sekunde nach dem Schlussakkord zum Stillstand kam – dann wusste man (hätte man wissen können), dass Feingefühl geboten war. Weil hier ein brennendes Herz auf dem Spiel stand.

5. YOU'RE THE BEST THING – Style Council

1989, auf dem Höhepunkt ihrer Popularität, wurden allein in Großbritannien 83 Millionen Musikkassetten verkauft - und das sind nur die vorab bespielten Exemplare. Kassetten zwangen ihre Nutzer dazu, sich ein wenigstens oberflächliches Verständnis ihrer Funktionsweise anzueignen, weil der üble Geruch der Magnetbänder ihre Nutzung als luftschlangeneskes Partyaccessoire nach einem Bandsalat nicht erlaubte.

Kassetten vermittelten eine greifbare Vorstellung der Endlichkeit von Zeit und Raum, auch wenn die Aufnahmelänge sich im Laufe der Jahre von 60 auf 90 und schließlich sogar auf 120 Minuten steigerte. Immer wieder galt es, sich der Herausforderung zu stellen, etwas, das beste Tape der Welt nämlich, aus diesen Beschränkungen zu machen. Und doch kam früher oder später der Moment, in dem die Musik endete. Fast schon eine Lebensweisheit.

Wer auf Reisen ging, beschäftigte sich weit vor dem Aufbruch mit der Frage, welche Stimmung er unterwegs erzeugen und auf welche Stimmung er reagieren wollen würde – jeweils mit Musik, versteht sich. Ein Hemmnis, fraglos, aber eines, das zum Innehalten zwang. Was wir erst heute als Verlust empfinden, wo die meisten Geräte gar keinen Knopf mehr haben, an dem man sie stoppen kann, sondern nur eine Pause-Taste.

6. IT'S THE END OF THE WORLD AS WE KNOW IT (AND I FEEL FINE) – R.E.M.

Die meisten von uns haben der Musikkassette keine Träne nachgeweint, als sie irgendwann um die Jahrtausendwende herum mit dem Aussterben begann. Mit CD und Mini-Disc zog der Zeitgeist in unsere Jackentaschen und Ohren ein, die Illusion der grenzenlosen Machbarkeit. In alten Fabrikhallen boomten die Startups, Internetfirmen boomten an der Börse, es ging immer höher, schneller, weiter und auf einem CD-Rohling vielleicht nicht beliebig lang, aber immerhin nie länger, als man mochte.

CDs genügen sich selbst. Man muss sie nicht umdrehen. Man kann sie im Endlosmodus laufen lassen. Nur bei grober Fahrlässigkeit tragen sie Spuren der Misshandlung davon. Bald kauften wir die Rohlinge auf Spiralen, im 50er-, 100er-Pack. Und weil es so wahnsinnig schnell ging, mal eben eine CD zu brennen, hörten wir auf, die Cover zu verzieren. Weil unsere Bastelei so tumb wirkte neben dem makellosen Spiegelglanz der silbernen Scheibe.

Inzwischen, mitten in der MP3-Epoche, geht es auch der CD an den Kragen. Und offen gestanden geschieht ihr das ganz recht. Es ist mir in all den Jahren nie gelungen, zu den unnachgiebigen, quadratischen Boxen ein emotionales Verhältnis aufzubauen. Kassetten verhielten sich zu CDs wie bärtige Trambahnschaffner zu Fahrkartenautomaten. Die Maschinen sind praktischer, klar. Aber wenn sie einen Tritt kassieren, schert sich kein Mensch darum. Warum auch?

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7. ZU JUNG – Kraftklub

Mit vielen Hindernissen, die ganz selbstverständlich zu einer Jugend um 1980 gehörten, können nachfolgende Generationen selbstverständlich wenig anfangen. Und so überraschte es mich nicht, als mir ein Freund unlängst vom Ungeschick einer Bekannten erzählte, die ohne Schallplatten und offenbar weitgehend auch ohne Kassetten groß geworden war. Zu ihrer Hochzeit wollte sie ihrem etwas älteren Verlobten eine Freude machen und beschloss, seine Plattensammlung zu digitalisieren. Leider stellte sich später heraus, dass sie jeweils nur eine Seite der LPs kopiert hatte. Das Prinzip war ihr schlicht nicht vertraut. Noch so eine Lebensweisheit: dass jedes Ding zwei Seiten hat. Es sei denn, es handelt sich um eine MP3-Datei.

8. IT AIN'T OVER TILL IT'S OVER –

Lenny Kravitz

Während die Vinylplatte nie ganz aus den Regalen trendiger kleiner Läden verschwunden ist, tat sich die Musikkassette lange Zeit schwer mit ihrem Comeback. Ich weiß nicht, wann ich bei iTunes das erste Mal über eine App stolperte, die Playlists in Mixtapes übersetzt, abspielbar über eine Oberfläche, die einen Ghettoblaster imitiert. Was ich weiß, ist, dass mir kurz darauf die Silikonhüllen auffielen, die aussehen wie Kassetten und Smartphones schützen. Und dass mich im Urlaub zwei 14-Jährige mit leuchtenden Augen dazu aufforderten, mir eine zu kaufen. „Cool“, sagten sie.

Im Internet kann man bei www.says-it.com kurze Texte unter anderem auf virtuelle Kassetten applizieren, die dann anschließend auf Tassen, T-Shirts oder Anstecker gedruckt werden. Es gibt Taschen mit Kassettenaufdruck, Kassettenohrringe und kassettenförmige Fimo-Knöpfe bei Dawanda. Eine Sehnsucht greift um sich – nach einem Kulturträger, mit dem man weder telefonieren noch im Internet surfen noch fotografieren oder sonst irgendwas kann. Dem iPhone hat die Kassette ausschließlich voraus, dass sie rund einen Zentimeter kürzer ist.

9. I LOVE TO LOVE – Tina Charles

Die Begeisterung beschränkt sich nicht auf die Kassette als hipper Zierrat. Als die Band Dinosaur Jr. im vergangenen Jahr ein Trilogy Boxset veröffentlichte, waren die Tapes innerhalb weniger Stunden ausverkauft. Immer mehr kleine Labels wie etwa The Tapeworm in London legen limitierte Kassetteneditionen von 250 Stück auf – für Hardcore-Tape-Lover auch ohne Dreingabe eines kostenlosen Download-Codes.

Demnächst wird ein Dokumentarfilm zum Thema erscheinen. Seine Macher, die Fotografen Zack Taylor und Seth Smooth, haben die Mittel für die Produktion innerhalb weniger Wochen über die Webseite Kickstarter eingesammelt: insgesamt 25 000 Dollar von rund 350 Menschen für einen Streifen, der die Geschichte der Kassette in den Mittelpunkt stellt.

10. DU FREUST DICH JA GAR NICHT –

Jens Friebe

Befördert wird der Hype auch von Menschen, die rein altersmäßig nicht viel mehr als Die Weihnachtsbäckerei oder Benjamin Blümchen mit ihm assoziieren können – keine wilden Partys am Baggersee, keine sexuellen Annäherungen zu leiernden Klängen aus dem Autoradio, nicht mal einen anständigen Bandsalat.

Konsequenterweise geißelte der Autor Calum Marsh bereits im Dezember 2009 den um sich greifenden Trend als Zeichen absichtsvoller Regression, der Hand in Hand gehe mit einem Vinyl-Boom, dem Fanzine-Revival und einem neuen Hang zu Basement-Shows. Während Vinyl allerdings immerhin noch einen akustischen Mehrwert offeriere, könnten Kassetten nicht einmal das von sich behaupten. Im Gegenteil sei die Produktion von Anfang an darum bemüht gewesen, das Produkt zu geringen Kosten anbieten zu können – um den Preis der Klangqualität. Und nur aufgrund der leichteren Transportmöglichkeit sei man damals bereit gewesen, ihn zu zahlen. Marsh wurde für seine Abrechnung kritisiert, erfuhr aber auch jede Menge Zustimmung.

11. WE GOT ALL THE TIME IN THE WORLD –

Fun Loving Criminals

Vielleicht hat die Sehnsucht, die offenbar nicht nur Menschen erfasst, die mit Kassetten aufgewachsen sind, ganz einfach damit zu tun, dass wir es satt haben, in einer Welt zu leben, die uns mit perfekten, makellosen Maschinen umgibt. In der man sich kaum traut, die Geräte anzufassen, weil schon ein Fingerabdruck sie unansehnlich macht. In der kein Defekt, und sei er auch noch so gering, mit eigenen Mitteln behoben werden kann, sondern die Geräte im Gegenteil häufig schon mit eingebautem Verfallsdatum auf den Markt geschickt werden. Vielleicht sehnen wir uns nach Dingen, die genauso fehlerhaft sind, wie wir selbst sein dürfen wollen, obwohl man uns immer seltener lässt.

12. UNA DE NOCHE, SIRENAS Y ANTIFAZ –

Rolo

Vor etwa 15 Jahren drückte mir ein junger argentinischer Musiker auf dem Malecón in Havanna zum Abschied eine Kassette in die Hand. Er hatte Proben seiner Band aufgenommen, irgendwo in einem Wohnzimmer von Buenos Aires. Die Klangqualität war furchtbar. Sie hatten die Songs um 4 Uhr morgens eingesungen, nach dem Ende ihrer Schicht in einer Bar. Ich habe die Kassette trotzdem so oft gehört, dass ich sie mehrfach flicken musste. Die Beschriftung kann man inzwischen nicht mehr erkennen.

Rolo, der Gitarrist und Sänger, hat die Songs später immer wieder aufgenommen – in professionellen Studios, mit Mischpult und Querflöten, im spanischen Wirtschaftskrisenexil. Aber auf keiner Aufnahme haben sie jemals wieder so schön geklungen wie auf meiner Kassette. Was daran liegen mag, dass ich weiß, dass es von ihr keine zweite gibt auf der Welt.

Karin Ceballos-Betancur

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