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Wirtschaftskrise in Spanien: Wie gut es uns ging

Vladimir Garrido hatte eine eigene Baufirma mit mehreren Beschäftigten. Auch seine Auftragsbücher waren voll. Doch dann mit der spanischen Wirtschaftskrise bezahlten seine Kunden ihre Rechnungen nicht mehr, dann ereilte die Pleite auch ihn. Nun wohnt er wieder bei seinen Eltern, in seinem Kinderzimmer, mit 39. Er nennt es „meine Gefängniszelle“.

Er starrt schon lange auf die Deckenlampe, die schräg über seinem Bett hängt und die Form eines Flugzeugs hat, als um acht Uhr der Wecker klingelt. Ring-ring-ring.

Vladimir Garrido dreht den Kopf langsam zum Fenster. Davor steht ein dunkelblau lackierter Schreibtisch, ein Modell aus den 80ern. Vladimir Garrido, 39, schläft in seinem alten Kinderzimmer. Er nennt es „meine Gefängniszelle“. Sein Gefängniswärter ist die spanische Wirtschaftskrise.

Ring-ring-ring.

Es dauert einige Sekunden, dann schlägt er mit der flachen Hand auf den Wecker.

So wird es kurz darauf erzählen, nachdem er aus dem Bett gesprungen ist wie ein Gejagter. Die Jeans übergestreift hat, zwei Stockwerke hinuntergelaufen ist, immer zwei Stufen auf einmal nehmend. Unten angekommen die Tür zur Küche aufgestoßen hat, in der seine Eltern schon am Frühstückstisch sitzen. Plötzlich ist er ganz ruhig. Er murmelt „Buenos días“ – Guten Morgen. Und sagt erst mal nichts mehr, bis er den Kaffee ausgetrunken hat. Das Toastbrot, das seine Mutter ihm auf den Teller gelegt hat, rührt er nicht an. Dann fragt er seine Eltern, fleht fast: „Gibt es etwas zu tun? Am Haus? Im Garten?“

Er dehnt die Worte, so weit es geht, und als es klingt, als würde er enden, hängt er doch noch eine Frage an. „In der Garage?“ Als ob er eine Antwort verhindern wolle, aus Angst vor ihr. Die Mutter legt den Kopf schräg, sieht ihn liebevoll an – oder mitleidig. So genau lässt sich das nicht sagen. Der Vater schüttelt kurz den Kopf, antwortet, „hast ja gestern schon alles erledigt“.

Vladimir Garrido geht wieder nach oben in sein Kinderzimmer. Setzt sich auf das Bett, nimmt die Flamenco-Gitarre in die Hand, spielt ein paar Akkorde, legt sie weg. Heute ist ein schlechter Tag. Wieder einmal.

Früher war die Gitarre für ihn alles. Er konnte es nicht erwarten, von der Arbeit nach Hause zu kommen und sie in die Hand zu nehmen. Aber seit einem Jahr ist die Gitarre nur ein Spielzeug.

Im Februar 2011 ging die kleine Baufirma von Vladimir Garrido pleite. Er war selbstständiger Unternehmer und haftete mit seinem gesamten Vermögen. Er musste seine Wohnung in Granada aufgeben und irgendwie auch sein Leben. Die Bank nahm ihm alles, was er hatte, als Letztes den Computer. Er zog zurück zu den Eltern, in ein kleines Reihenhaus am Rand der Stadt, von wo er vor mehr als 15 Jahren weggezogen war. Er war keiner von jenen Spaniern gewesen, die das Elternhaus nicht verlassen wollten.

Fast alle Tage sind seitdem schlechte. An den wenigen guten hat sein Vater ein bisschen Arbeit für ihn. Vladimir Garrido hat schon das Haus geweißelt, die quietschende Küchentür repariert, ein Regal für die Werkzeuge in der Garage gebaut, zwölf Mal den Rasen gemäht.

„Mir geht’s nur gut, wenn ich arbeite“, sagt er auf seinem Bett sitzend, das unter der Dachschräge steht. Sein Zimmer ist klein, zehn Quadratmeter vielleicht. Vladimir Garrido steht wegen der Schräge gebückt auf, geht zum Fenster. Von dort blickt er – immer noch gebückt, auch ohne Schräge – auf die roten Ziegel der gleichförmigen Reihenhäuser gegenüber. „Wenn ich den ganzen Tag nichts zu tun habe, habe ich keine Lust auf gar nichts.“ Er sieht hinaus, blinzelt nicht. „Ich komme mir nutzlos vor. Manchmal denke ich, ich werde nie wieder arbeiten, nie wieder unabhängig sein.“

Vladimir Garrido ist einer von mehr als fünf Millionen arbeitslosen Spaniern und einer von knapp 60 000 Kleinunternehmern im Land, die allein im vergangenen Jahr Konkurs anmelden mussten. Die Aussichten sind nicht gut. Die Arbeitslosenzahlen steigen weiter, bald könnte jeder Vierte ohne Job sein.

„Das Hauptproblem von Spanien ist die extrem hohe Arbeitslosigkeit, nicht die Verschuldung“, schreibt Vicenç Navarro, Wirtschaftsprofessor an der Universität Pompeu Fabra in Barcelona in der Zeitung „El País“. Sie sei Anfang, Mitte und Ende eines Teufelskreises. Ohne Job geben die Menschen weniger Geld aus. Die Firmen machen weniger Umsatz, viele gehen deshalb irgendwann pleite. Denn in der Krise vergeben die Banken auch immer weniger Kredite. Zuletzt ist die Vergabe im Durchschnitt um vier Prozent gesunken. Die Wirtschaft schrumpft, das Bruttoinlandsprodukt (BIP) sinkt. Damit steigt wiederum auch der Anteil der Schulden am BIP. Derzeit liegt das spanische Staatsdefizit bei 8,5 Prozent.

Die europäische und auch spanische Antwort auf den Teufelskreis und die Schuldenkrise: Sparmaßnahmen. Der konservative spanische Ministerpräsident Mariano Rajoy hat sich mit den Euro-Finanzministern geeinigt, dass Spanien am Ende des Jahres ein Defizit von 5,3 Prozent erreichen soll. Um das zu schaffen, will er 37 Milliarden Euro einsparen. Der Etat für sämtliche Ministerien wurde um knapp 17 Prozent gekürzt. Sozialleistungen werden beschnitten, Steuern erhöht, Staatsbedienstete entlassen. Die Arbeitslosigkeit wird also weiter steigen.

Diese Woche hat sich gezeigt: Die Märkte belohnen die enormen Sparanstrengungen der Spanier nicht. Investoren wollen für Kredite immer mehr Geld. Die Zinsen für zehnjährige Staatsanleihen überstiegen am Montag erstmals die kritische Marke von sechs Prozent. Griechenland, Irland und Portugal mussten Gelder aus dem Rettungsfonds beantragen, als sie die Marke von sieben Prozent erreicht hatten. Sie fanden nicht mehr genügend private Geldgeber.

Es gibt Experten, die sagen, Sparen sei nicht die Lösung, um Arbeitslosigkeit und Staatsverschuldung zu entkommen. Einer von ihnen ist Luis Garicano, Wirtschaftsprofessor an der London School of Economics. Mit ziemlicher Sicherheit reichten die Sparmaßnahmen sowieso nicht aus, um das Defizitziel zu erreichen, sagt er. Spanien müsste doppelt so viel einsparen wie derzeit geplant, um das angepeilte 5,3-Prozent-Ziel zu erreichen. Garicano nennt das eine „Mission impossible“. Er sagt auch: Die Märkte haben weniger Angst vor den spanischen Schulden als vor den Folgen der Sparmaßnahmen. Denn die hätten das Potenzial dazu, die Wirtschaft zu zerstören und den Teufelskreis nur noch weiter anzuheizen. Vladimir Garridos Fall zeigt, dass das stimmen kann.

Eigentlich gehört er zu denjenigen, die Spanien retten könnten, er ist ein Macher. Er stammt aus einer Unternehmerfamilie, schon sein Vater hatte eine Firma, spezialisiert auf Stahlbau. Seit er zehn Jahre alt war, half er am Wochenende im Betrieb aus. Später machte er dort seine Ausbildung zum Stahlbauer. Mit 25 gründete er eine eigene Firma. Auch seine beiden älteren Brüder sind Unternehmer, einer verkauft T-Shirts, der andere hat eine Autowerkstatt. Der Vater hat seinen drei Söhnen immer eingebläut, niemand müsse arbeitslos sein, wenn er das nicht wollte.

Nach der Pleite seiner Firma blieb Vladimir Garrido nichts anderes übrig, als sich arbeitslos zu melden. Keiner seiner Freunde, Brüder, Bekannten oder früheren Geschäftspartner hatte Arbeit für ihn. Alle mussten Mitarbeiter entlassen, um weitermachen zu können. Mittlerweile haben viele von ihnen Konkurs angemeldet. Auf dem Arbeitsamt erklärte man ihm, dass er als Stahlbauer auf dem Arbeitsmarkt derzeit keine Chance habe. „In der Baubranche gibt es nichts“, sagte die Jobberaterin ihm. Dann schickte sie ihn weg. Die frühere Boombranche, verantwortlich für Spaniens Aufstieg, ist tot. Vladimir Garrido würde gerne ein neues Geschäft aufbauen. Doch die Schulden erdrücken ihn.

Ausgerechnet eine religiöse Bruderschaft aus Granada war es, die Vladimir Garrido in den Ruin getrieben hat, eine von den Gruppen, die während der spanischen Karwoche, der Semana Santa, Christus- und Marienstatuen durch die Stadt tragen. Es war ein großer Auftrag, die Bruderschaft wollte ein neues Haus für die Marienstatue, Vladimir Garrido rechnete mit 12 000 Euro Gewinn. Er plante, kaufte die Materialien, begann mit dem Bau. Seine fünf Angestellten waren auf der Baustelle beschäftigt, drei Monate lang. Dann war die Bruderschaft zahlungsunfähig. Und seine Firma war am Ende.

Es war ein Untergang, der sich angekündigt hatte. Der letzte Auftrag sollte der Rettungsanker für das Unternehmen sein. Als Garrido ihn annahm, hatte er schon Ausstände von knapp 20 000 Euro. Im September 2008 war ein Tankstellenbetreiber pleitegegangen, während Garrido dessen Dach erneuerte. Damals dachte Garrido noch, er würde sein Geld, 5000 Euro Material- und Personalkosten, aus der Insolvenzmasse bekommen. Doch erst kassierten die Banken ihre Kredite, und als Garrido an der Reihe hätte sein sollen, war kein Geld mehr übrig.

„Als ich das erste Mal auf meinen Ausgaben sitzen blieb, konnte ich es nicht fassen“, sagt er heute. Immer noch blickt er aus dem Fenster seines Kinderzimmers, ins Nichts. „Zehn Jahre lang hatte ich meine Firma damals, und niemals war so etwas vorgekommen. Bis dahin hatten alle bezahlt, manche früher, manche später. Aber immer hatte ich mein Geld bekommen.“ Bis kurz vor der Krise war es in Spanien normal, keinen Cent zu kassieren, bevor ein Auftrag abgeschlossen war. Erst seit Firmenpleiten normal geworden sind, ist ein Vorschuss für die Materialien oder eine Anzahlung üblich.

Als im Oktober 2008 das zweite Mal ein Auftraggeber Insolvenz anmeldete – dieses Mal war es ein Hotel, Garrido hatte gerade die Arbeiten an den Balkonen abgeschlossen, suchte er Hilfe. Er fand ein Versicherungsunternehmen, das Firmen gegen die Insolvenz von Auftraggebern absicherte. Der Deal: Wenn Garrido pro Quartal 2500 Euro zahlte und jeden Auftrag von der Firma absegnen ließ, versprach der Versicherer, 80 Prozent der Rechnung zu begleichen, sollte der Geschäftspartner nicht zahlen können. Allerdings erst neun Monate nach Vertragsunterzeichnung. Garrido ließ sich darauf ein.

Zwei Jahre ging das gut. Als das dritte Mal ein Auftrag platzte, musste Garrido einen Kredit aufnehmen, um die Gehälter seiner Angestellten zahlen zu können, bis die Versicherung nach neun Monaten die 80 Prozent der Auftragssumme erstattete. Beim vierten Mal musste er vier Angestellte entlassen. Er verzichtete monatelang auf sein eigenes Gehalt, schließlich halbierte er es auf 800 Euro netto.

Dann kam der Auftrag der Bruderschaft. Vladimir Garrido hoffte, dass mit dem Großauftrag alles besser werden würde. Doch als die erste Zahlungsfrist verstrichen war, hatte er immer noch kein Geld erhalten. „Da ahnte ich eigentlich schon, was passieren würde“, sagt er. Die Bruderschaft zögerte die Zahlung der Materialkosten immer wieder hinaus. Nachdem er zum zehnten Mal bei der Sekretärin um sein Geld gebettelt hatte, 20 000 Euro, überwies man ihm ein Drittel. „Obwohl ich kein gutes Gefühl hatte, machte ich weiter. Ein anderer Auftrag war ja nicht in Sicht, die Materialien waren schon bezahlt. Was hätte ich tun sollen?“

Kurz bevor das Gebäude fertig war, meldete die Bruderschaft Insolvenz an.

Die Zeit, bis der Versicherer für 80 Prozent der Auftragssumme aufkommen würde, konnte sein Unternehmen nicht überstehen. Einen weiteren Kredit, um die Gehälter der Angestellten zu bezahlen, würde die Bank ihm nicht geben.

Seitdem ist Vladimir Garrido nicht nur ohne Arbeit. Er hat auch einen Berg Schulden, mehr als 60 000 Euro. Er muss Kredite zurückzahlen, für Abfindungen aufkommen und die Mehrwertsteuer, die er für den letzten großen Auftrag in Rechnung gestellt, aber nie bekommen hat, an das Finanzamt abführen. Jeden Monat werden knapp 500 Euro von seinem Konto eingezogen, neun Jahre noch.

Vladimir Garrido hätte den Betrag nicht, wenn sein Vater ihm das Geld nicht überweisen würde. Als Selbstständiger hat er keinen Anspruch auf Arbeitslosengeld. Sozialhilfe gibt es zwar auch in Spanien, um die 400 Euro monatlich. Anspruch hat jedoch nur, wer keine andere Hilfe erhält. Wer wie Vladimir Garrido bei den Eltern wohnen kann, bekommt nichts.

Für den Vater ist es nicht leicht, jeden Monat 500 Euro aufzubringen, er bekommt nur eine kleine Rente. Aber ihm bleibt nichts anderes übrig. Zahlt er nicht, kommt der Gerichtsvollzieher. Vladimir Garrido ist bei den Eltern gemeldet. Sie haften jetzt mit ihrem Privatvermögen für die Schulden des Sohns. Sie müssten ihn vor die Tür setzen.

Am Abend verlässt Vladimir Garrido sein Kinderzimmer noch einmal. Er will einen Film sehen, der einzige Fernseher steht im Wohnzimmer. Als er einschaltet, laufen die Nachrichten. Und Vladimir Garrido weiß: Morgen wird wieder ein schlechter Tag.

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