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Teilnehmer des "March for Science" forderten auch in Deutschland eine faktenbasierte Politik.

© Patrick Seeger/dpa

Wissenschaft und Politik: "Nur Fanatiker und Schurken haben zu 100 Prozent recht"

Soll Politik auf Wissenschaft hören? Donald Trump wird von US-Psychiatern ferndiagnostiziert, Bertrand Russell forderte einen Atomkrieg gegen die Sowjetunion. Also Vorsicht! Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Malte Lehming

Vor gar nicht langer Zeit gehörte die Rassentheorie zum Kanon der Naturwissenschaften. Anfang des 20. Jahrhunderts entstand daraus die Eugenik. Deren Ziel war es, „rassisch hochwertige Menschen“ zu züchten. Es kam zu Fortpflanzungsverboten und Zwangssterilisationen. 1912 fand der erste eugenische Weltkongress statt. Die Eugenik galt als eine sehr innovative Wissenschaft und wurde in vielen Ländern staatlich unterstützt.

„Zu Fakten gibt es keine Alternative“ stand auf Plakaten, als sich vor kurzem in 22 deutschen Städten rund 40.000 Wissenschaftsfreunde zum „Science March Germany“ versammelten. In Zeiten von „fake news“ verkomme die Wissenschaft zu einer bloßen Meinung, wurde beklagt. Die Aktivisten des Wissenschaftsmarsches setzten sich für eine „öffentlich geförderte und öffentlich kommunizierte Wissenschaft“ ein und forderten die Entscheidungsträger auf, „Politik zu machen, die auf Beweisen beruht“.

Das Ausmaß dieser Anmaßung wird deutlich, wenn sie mit einem Ereignis kontrastiert wird, das zwei Tage vorher stattgefunden hatte und weitgehend unkommentiert geblieben war. An der amerikanischen Yale School of Medicine hatte sich eine Gruppe von Psychiatern versammelt, um Donald Trumps Psyche zu analysieren. Per Ferndiagnose attestierten sie dem US-Präsidenten, „paranoid, wahnhaft und größenwahnsinnig“ zu sein. Er sei nicht in der Lage, das Land zu regieren.

Bereits im Januar hatten renommierte Psychologen und Psychiater in den USA eine Petition veröffentlicht, um Trump wegen seines angeblich gefährlichen Geisteszustandes des Amtes entheben zu lassen. Außerdem wurde eine Vereinigung gegründet, „Duty to Warn“, die dasselbe Ziel verfolgt.

Hoimar von Ditfurth prangerte die Hungerbekämpfung an

Sie alle verstoßen ungeniert gegen die sogenannte Goldwater-Regel, die 1973 von der Standesorganisation der amerikanischen Psychiater, der „American Psychiatric Association“, verabschiedet worden war. Demzufolge gilt es als unmoralisch, den geistigen Zustand einer öffentlichen Person per Ferndiagnose zu analysieren. Als solche Ferndiagnosen im Fall Trump inflationär wurden, warnte der Verband erneut: „Ein Verstoß gegen die Goldwater-Regel ist unverantwortlich, möglicherweise stigmatisierend und ganz entschieden unethisch.“ Auch in Deutschland gilt, dass etwa in Sachverständigengutachten Ferndiagnosen nicht zugelassen sind. Die zu bewertende Person muss persönlich untersucht worden sein.

Nun hängt das Ansehen der Wissenschaft auch vom Verhalten der Wissenschaftler ab. Wenn sie, ohne größere Proteste hervorzurufen, gegen eigene Grundsätze verstoßen, sollten sie sich über Reputationseinbußen nicht wundern.

Ohnehin ist fraglich, ob die Politik gut daran tut, dem Urteil von Wissenschaftlern zu folgen. Hoimar von Ditfurth war Arzt sowie Dozent für Psychiatrie und Neurologie. Er gab die Zeitschrift „n+m“ (Naturwissenschaft und Medizin) heraus, kämpfte gegen Aberglauben, Pseudowissenschaften, Kreationismus und Anthropozentrismus. 1974 und 1976 erhielt er den Sonderpreis des Stifterverbandes für die deutsche Wissenschaft.

Mitte der achtziger Jahre prangerte von Ditfurth die Hungerbekämpfung in Afrika an. Wer heute dort ein hungerndes Kind rette, trage wegen der Bevölkerungsexplosion dazu bei, dass die Leichenberge von morgen noch größer würden. Das sei nicht zu verantworten. Ein Artikel im „Spiegel“ von ihm trug die Überschrift „Die mörderische Konsequenz des Mitleids“. Insbesondere die Arbeit von Hilfsorganisationen wie „Misereor" und „Brot für die Welt“ sei kontraproduktiv.

Bertrand Russell empfahl einen nuklearen Krieg gegen die Sowjetunion

Ein anderer, weitaus prominenterer Wissenschaftler zeigte sich sogar explizit bereit, zum Wohle künftiger Generationen einen Teil der lebenden Menschen zu opfern. Bertrand Russell war britischer Philosoph, Mathematiker und Logiker. Er unterrichtete in Cambridge, Harvard und der London School of Economics. 1950 erhielt er den Literaturnobelpreis. Außerdem war er Atheist, Rationalist und Friedensaktivist.

Unter dem Eindruck des Abwurfs der ersten Atombomben in Hiroshima und Nagasaki fürchtete Russell um das Überleben der Menschheit in einem Dritten Weltkrieg. Die einzige Möglichkeit, diesen zu verhindern, sei die Bildung einer Weltregierung unter Führung der USA. Also plädierte Russell in mehreren Artikeln dafür – „Humanity’s Last Chance“ und „Towards a Short War with Russia“ –, einen präventiven Atomkrieg gegen die Sowjetunion zu führen. Seine Begründung: Selbst wenn Westeuropa total zerstört würde, müsse der Kommunismus besiegt werden, bevor Moskau ebenfalls über Atomwaffen verfüge und ein thermonukleares Wettrüsten einsetze.

Seit wenigen Tagen arbeitet Bret Stephens als Kolumnist für die „New York Times“. Stephens ist neokonservativ, scharfer Kritiker von Donald Trump, Pulitzerpreis-Träger, ehemaliger Chefredakteur der „Jerusalem Post“ – und Klimaskeptiker. Er teilt nicht die Lehre von der menschenverursachten Erderwärmung. Seine Anstellung hat Wissenschaftler weltweit erzürnt, einige haben ihr Abonnement gekündigt.

Ein Klimawandelskeptiker arbeitet jetzt für die "New York Times"

Seiner ersten Kolumne („Climate of Complete Certainty“) hat Stephens einige Sätze aus einer Geschichte des polnischen Schriftstellers Czeslaw Milosz vorangestellt. Die Geschichte heißt „Ein alter Jude aus Galizien“: „Wenn jemand zu 55 Prozent recht hat, dann ist das gut, und es hat keinen Sinn, darüber zu streiten. Und wenn jemand zu 60 Prozent recht hat, dann ist das wunderbar, ein großes Glück, und Gott sei gedankt dafür. Aber was ist, wenn jemand zu 75 Prozent recht hat? Kluge Leute sagen, das sei verdächtig. Nun gut, wie ist es dann, wenn man zu 100 Prozent recht hat? Wer auch immer sagt, dass er zu 100 Prozent recht hat, ist ein Fanatiker, ein Schurke und ein äußerst gefährlicher Mensch.“

Wenn Wissenschaftler heute fordern, eine Politik zu betreiben, die auf Beweisen beruhe, sollte eine kritische Öffentlichkeit dazu nicht nur beflissen nicken. Fakten sollten der Maßstab sein, aber allein aus Fakten resultiert kein Maßstab. Der britische Ökonom Thomas Malthus etwa bewies einst wissenschaftlich, dass die Nahrungsmittelproduktion mit der Bevölkerungsexplosion nicht werde Schritt halten können. Er irrte, denn der Beweis von gestern ist oft der Irrtum von morgen. Die Skepsis ist für das Wesen der Wissenschaft konstitutiv. Sie sollte es auch für den gesellschaftlichen Umgang mit ihr sein.

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