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Politik: Wohin steuert Europa?: Chirac möchte mit seiner Rede in Berlin vor allem die Debatte führen: Wer ist in der EU für was verantwortlich?

"Wir schaffen nicht die Vereinigten Staaten von Europa, sondern das Vereinigte Europa der Staaten." Dies sagte Frankreichs Präsident Jacques Chirac in einem Gespräch mit deutschen Journalisten im Pariser Elysée-Palast.

"Wir schaffen nicht die Vereinigten Staaten von Europa, sondern das Vereinigte Europa der Staaten." Dies sagte Frankreichs Präsident Jacques Chirac in einem Gespräch mit deutschen Journalisten im Pariser Elysée-Palast. Damit stellte der gaullistische Präsident eindeutig klar, was von seinem am heutigen Montag beginnenden zweitägigen Staatsbesuch in Deutschland nicht zu erwarten ist: Ein Bekenntnis zu einem föderalen Europa à la Joschka Fischer.

Das Wort "Föderalismus", in der englischen Presse oft als "F-Wort" verballhornt, ist auch für Franzosen schwer zu verstehen. Nach der Ansicht von Chirac werde es in Frankreich meist mit einem Superstaat à la USA assoziiert. Er persönlich glaube nicht an ein föderales Europa nach dem Muster der Vereinigten Staaten, fügte der neogaullistische Präsident hinzu. Bei seiner Rede im Bundestag am Dienstag habe er denn auch nicht vor, auf Fischers europapolitische Vision direkt zu antworten.

Frühes Ja zur Wiedervereinigung

Chirac geht es um etwas anderes: Der Neogaullist will in Hannover und Berlin zeigen, dass Frankreich auch mit dem wiedervereinigten, größeren Deutschland bestens auskommt. "Mit meinem Staatsbesuch will ich die gigantischen Anstrengungen würdigen, die Deutschland nach der Wiedervereinigung unternommen und zum Erfolg geführt hat", sagt Chirac. Er sei in den achtziger Jahren einer der ersten französischen Politiker gewesen, der für die deutsche Wiedervereinigung plädierte, betont der Gaullist. Damals habe er dafür viel Prügel bezogen. Umso mehr Freude bereite es ihm nun, den ersten französischen Staatsbesuch nach der Wiedervereinigung zu machen - und noch dazu als erster ausländischer Staatschef im Reichstag zu reden. In seiner mit Spannung erwarteten Rede will Chirac seine "Überzeugungen für das Europa der Zukunft" präsentieren, heißt es im Elysée-Palast. Der Präsident möchte die Bedeutung des deutsch-französischen Motors für die EU unterstreichen und Vorschläge für eine Modernisierung der bilateralen Beziehungen machen.

Vor allem ein Problem treibt den Präsidenten um: Die Frage nämlich, wer in Europa für was verantwortlich ist. Ohne eine Klärung der Kompetenzen könnte die EU in eine tiefe Krise rutschen, fürchtet man in Paris. Insbesondere die Brüsseler EU-Kommission maße sich zu viele Kompetenzen an und schränke den innerstaatlichen Entscheidungsspielraum auf undemokratische Weise ein, heißt es an der Seine. Dies führe dazu, dass sich immer mehr Bürger enttäuscht von der Politik abkehren, könne aber auch zu einer schleichenden Auflösung Europas in eine bloße Freihandelszone führen.

Die Berliner Rede soll diese Gefahren unterstreichen und mittelfristige Lösungsansätze aufzeigen. Manches spricht dafür, dass sich Chirac für eine EU-Verfassung, zumindest aber für eine europäische Verfassungsdebatte aussprechen wird. Einen ersten Verfassungsentwurf hatte vor zwei Wochen der gaullistische Ex-Premier Alain Juppé - ein enger Chirac-Vertrauter - vorgelegt. Sie sieht die Abschaffung der EU-Kommission und des Ministerrats und die Einsetzung einer supranationalen EU-Regierung vor.

Chirac kennt den Entwurf, will sich aber noch nicht festlegen. "Es schockiert mich nicht, über eine europäische Konstitution nachzudenken", sagt der Präsident diplomatisch. Die Debatte könne allerdings erst nach dem EU-Gipfel von Nizza beginnen.

Kritik an seinen europapolitischen Überzeugungen weist Chirac zurück. Es störe ihn keineswegs, wenn man ihn als Pragmatiker bezeichne. Eher ärgere ihn schon, wenn man die europäische Einigung mies mache. "Man hört immer wieder, Europa sei bloß eine Ansammlung von Problemen und Niederlagen. Doch Europa entwickelt sich immer weiter, und zwar schneller als geplant." Als Beispiele für europäische Erfolge nannte Chirac den Euro, den Europäischen Luft- und Raumfahrtkonzern EADS und die gemeinsame Verteidigungspoltik. "Ich hätte vor zwei Jahren selbst nicht geglaubt, dass wir das Europa der Verteidigung schaffen würden."

Mitglied der EU-Avantgarde

Berlin und Paris würden auch künftig die Motoren der europäischen Einigung bleiben, gab sich der Staatschef überzeugt. Auch die geplanten "verstärkten Kooperationen" zwischen einzelnen EU-Staaten würden daran nichts ändern. Deutschland und Frankreich gehörten per Definition zur Avantgarde.

Wenn es nach Chirac geht, könnte sich die Zusammenarbeit künftig auch auf internationaler Ebene bewähren: Der Präsident spricht sich nämlich entschieden dafür aus, Berlin einen ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat zu geben. Das wiedervereinigte Deutschland habe mit dem Kosovo-Konflikt endgültig seine Rolle in Europa und der Welt gefunden, sagte Chirac. Er werde sich daher für einen deutschen Sitz im Sicherheitsrat einsetzen.

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