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© Mike Wolff

Wolfgang Clement im Interview: "Es gibt zweifellos Missbrauch"

Ex-Wirtschaftsminister Wolfgang Clement über Hartz IV und Guido Westerwelles Ansichten.

Herr Clement, sind Sie mit sich im Reinen?



Ja, warum fragen Sie?

Das Bundesverfassungsgericht hat festgestellt, dass die Hartz-IV-Sätze willkürlich festgesetzt wurden – und Sie waren 2005 als Arbeitsminister dafür verantwortlich.

Das Urteil ist nicht sehr gelungen. Erstens: Die Richter postulieren zum wiederholten Male ein neues Grundrecht, und zwar überflüssigerweise. Denn Deutschland verhält sich seit seiner Gründung entsprechend dem Grundrecht auf Achtung und Schutz der Menschenwürde. Und so ist auch die Sozialpolitik entwickelt und gestaltet worden. Deshalb ist es fast eine Zumutung, wenn das Gericht nun an die Politik appelliert, ein angeblich neues Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum zu beachten. Als sei das nötig! Das ist seit Beginn der Bundesrepublik Deutschland gewährleistet. Wir geben heute rund ein Drittel der wirtschaftlichen Wertschöpfung in Deutschland für sozialpolitische Maßnahmen aus. Darin steckt eine gewaltige Umverteilung, und zwar mit einem Ziel, nämlich: Bürgern in Notlagen eine menschenwürdige Existenz zu gewährleisten. Zweitens fällt das Gericht in die alte Denkweise der Sozialhilfe zurück, in der die betroffenen Menschen für jeden Schuh und jeden Anorak, für jede Anschaffung zum Sozialamt laufen mussten.

Sie haben nichts falsch gemacht?

Die Pauschalierung der Hartz-IV-Sätze, so wie wir sie vorgenommen haben, war und ist jedenfalls grundsätzlich richtig. Wer das ändert, wird immer mehr Bürokratie und immer mehr Gerichtsverfahren erleben.

Welche Konsequenzen sollen denn aus dem Urteil gezogen werden?

Die Bundesregierung hat jetzt damit begonnen, für alle möglichen denkbaren Härtefälle Einzelnormen zu schaffen. Das wird eine never ending story. Sinnvoller wäre es unter den gegebenen Umständen, in allen Jobcentern Ombudsmänner einzusetzen, die über Härtefälle entscheiden. Das bedeutet, pragmatisch zu handeln, wo das gesetzgeberische Bemühen um Einzelfallgerechtigkeit zum Scheitern verurteilt ist. Der andere Teil des Urteils, der den Kindern gilt, führt in Wahrheit am Arbeitsrecht vorbei. Kein Arbeitsrecht der Welt , keine Arbeitsvermittlung kann zugleich die Entwicklung von Kindern und die Bedürfnisse von Alleinerziehenden steuern. Diese Forderung richtet sich deshalb tatsächlich an die Familien- und Bildungspolitik.

Die Hartz-Sätze für Kinder sollen nicht angehoben werden?

Nein. Denn es erhöht ihre Chancen nicht. Nicht die Eltern brauchen mehr Geld, sondern die Kinderkrippen, Kindergärten und Schulen. Außerdem muss es überall dort Regelungen geben, wo es darum geht zu verhindern, dass Kinder aus sozial schwachen Elternhäusern ihre Chancen nicht wahrnehmen können. Dem haben wir in der Regierung Gerhard Schröders Rechnung zu tragen versucht, indem wir beispielsweise – über die Zuständigkeiten des Bundes hinaus – erhebliche zusätzliche Mittel für Kindergärten und Ganztagsschulen zur Verfügung gestellt haben.

Geht es in Ordnung, dass Kinder von Hartz-IV-Empfängern nicht an Klassenfahrten teilnehmen und keine Schulbücher kaufen können?

Nein, das ist weder für die Kinder von Hartz-IV-Empfängern noch für die einer alleinerziehenden Verkäuferin in Ordnung. Deshalb sollte es in jeder Schule einen Finanztitel geben, aus dem solche Dinge für Kinder aus sozial schwachen Familien finanziert werden können, ob Klassenfahrten oder Schulbücher oder Sonstiges. Auch Verfassungsrichter sollten aber wissen, dass die Bundesagentur für Arbeit nicht für die Bildung von Kindern oder für Kitaplätze für die Kinder von Alleinerziehenden verantwortlich sein kann. Solange wir nicht mehr Zeit und Kraft in Erziehung und Bildung investieren, werden wir nur immer neue Generationen von chancenlosen Kindern und Langzeitarbeitslosen produzieren. Wer hieran etwas ändern will, der darf aber eben nicht bei Hartz IV hängen bleiben!

Ihre ehemalige Partei, die SPD, leidet bis heute unter den Arbeitsmarktreformen. Nun diskutieren die Genossen darüber, die Zahldauer des Arbeitslosengelds I zu verdoppeln und beim Arbeitslosengeld II Zuschläge an diejenigen zu zahlen, die über lange Zeit Beiträge geleistet haben.

Natürlich ist das falsch. Wir haben seinerzeit das Arbeitslosengeld I nicht aus Spaß gekürzt, sondern um den Trend in den Vorruhestand zu stoppen. Das muss so bleiben, denn in einer Gesellschaft mit immer weniger jungen und immer mehr älteren Menschen brauchen wir die Menschen länger im Arbeitsprozess. Und zum Arbeitslosengeld II: Das ist eine solidarische Versicherung, die einspringt, wenn jemand in Not kommt, und keine Einrichtung zur Rückvergütung von Beiträgen.

Die SPD hofft, mit diesen Maßnahmen das Vertrauen der Stammwählerschaft zurückzugewinnen.

Die SPD hat es versäumt, die Reformen der Agenda 2010 fortzusetzen – insbesondere im Bereich von Bildung und Qualifikation. In Wahrheit ändert sich in unserem Erziehungs- und Bildungssystem bis heute substanziell fast nichts. Die Parteien und die Länderregierungen erschöpfen sich stattdessen in Strukturdebatten, möglichst noch von Land zu Land unterschiedlich. Dabei wäre eine inhaltliche Erneuerung der Bildungspolitik die Aufgabe der SPD gewesen, die übrigens ihre hohe Zeit hatte, als sie den zweiten Bildungsweg entdeckte. Damit wäre auch der Anspruch der Agenda vom „Fordern und Fördern“ komplett einzulösen gewesen.

Am 14. März jährt sich die Bundestagsrede des ehemaligen Bundeskanzlers Gerhard Schröder zur Agenda 2010 zum siebten Mal. Was bedeutet dieser Tag für Sie?

Es war ein später, absolut notwendiger Schritt zur Erneuerung Deutschlands, der dringend fortgesetzt werden muss.

Sie galten als Schröders härtester Reformer. Erfüllt Sie das bis heute mit Stolz?

Ich war voller Hoffnung, als Gerhard Schröder den Weg zu den Reformen öffnete. Und wie wirksam sie waren, das haben wir doch seither, insbesondere in den Jahren 2005-2008 bis zum Ausbruch der großen Krise, an der Entwicklung des Arbeitsmarktes gesehen. Niemand hätte erwartet, dass es möglich sei, die Arbeitslosigkeit innerhalb von drei Jahren von fünf auf drei Millionen zu senken. Dafür bewundert man uns in Europa. Umso komischer muten manche Debatten an, die wir hier führen.

Wird Arbeitslosen in Deutschland „anstrengungsloser Wohlstand“ versprochen, wie Guido Westerwelle sagt?

Das hat Herr Westerwelle ja so nicht gesagt. Aber es gibt zweifellos Missbrauch und Fehlentwicklungen, oben wie unten in unserer Gesellschaft. Beidem müssen wir abhelfen. Ich habe die missbräuchliche Inanspruchnahme von Arbeitslosengeld II mal mit 20 bis 25 Prozent geschätzt und vermute, dass dies nicht falsch war, wenn ich nur die hohe Schwarzarbeit in unserem Land ins Kalkül ziehe. Aber dagegen sind die Arbeitsagenturen machtlos, während sie diejenigen, die grundlos einen legalen Arbeitsplatz ablehnen, mit Sanktionen belegen können und dies auch zunehmend tun. Insofern war die Diskussion um eine neu einzuführende Arbeitspflicht überflüssig.

Welcher Teil ist nicht überflüssig?

Meiner Überzeugung nach ist es höchste Zeit, dass wir uns darüber klar werden, was der Staat einer sich demografisch dramatisch verändernden Gesellschaft noch leisten kann und was nicht – und was der Einzelne und die Einzelne wieder mehr an eigener Verantwortung übernehmen muss. Das ist, wenn ich es richtig verstehe, der Kern dessen, worum es Herrn Westerwelle geht. Und da hätte er recht.

Müssen die Hartz-IV-Sätze abgesenkt werden?

Nein. Wir müssen die, die arbeiten, begünstigen. Und da ist das Abgaben- und Steuersystem natürlich ein Problem. Gerade im unteren und mittleren Einkommensbereich sind die Lasten zu hoch und müssen alsbald abgesenkt werden.

Die Bundesregierung will außerdem die Hinzuverdienstmöglichkeiten für Arbeitslose erweitern.

Ich halte das nicht für machbar. Das haben wir seinerzeit schon hin und her diskutiert. Das scheitert am unzweifelhaft notwendigen Lohnabstandsgebot. Bevor Sie mich jetzt nach der Einführung von gesetzlichen Mindestlöhnen fragen - die würden das Problem nicht lösen, sondern neue Probleme schaffen. Ich stehe für tarifliche Mindestlöhne und eine bessere Netto-Einkommenslage der unteren und mittleren Einkommen.

Die Kanzlerin wirft Westerwelle vor, er behindere mit seiner scharfen Rhetorik notwendige Sozialstaatsreformen. Hat sie recht?

Dass es nach dem Verfassungsgerichtsurteil eine Debatte geben würde, war zu erwarten. Westerwelle hat dazu seine Meinung gesagt, die man nicht so einfach beiseiteschieben kann. Davon bin ich überzeugt. Manche Kritiker, auch in den Medien, erheben sich doch allzu schnell über andere. Und ansonsten: Dass wir gesellschaftliche Tendenzen zur Dekadenz haben, dafür fallen mir allerhand Beispiele ein. Und auch das ist erwähnenswert: Wenn Kinder in der Schule auf die Frage, was sie werden wollen, „Hartz-IV-Empfänger“ antworten, dann stimmt etwas nicht im Lande.

Was halten Sie davon, der FDP beizutreten?

Ich gehöre zurzeit keiner Partei an und fühle mich damit ganz wohl.

Das Gespräch führten Stephan Haselberger und Antje Sirleschtov.

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