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Nirgendwo dürfte das Corona-Ende exzessiver gefeiert werden als in Berlin. Auf unterschiedlichste, kreativste, Berliner Art und Weise.

© imago images/Westend61

Ja, ich bin Corona auch leid, aber...: Wir entscheiden jetzt, wer die Party nach dem Corona-Ende mitfeiern wird

Was tun mit dem Impuls, die Corona-Regeln abschütteln zu wollen? Sich dennoch daran halten - und freuen auf das, was kommt. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Sascha Karberg

Ja, ich bin es auch leid. Seit Monaten habe ich mich kaum mit Freunden getroffen, an meinen letzten Kinobesuch kann ich mich nicht mehr erinnern, Geburtstagsfeiern sind ausgefallen oder fühlten sich im kleinen Kreis nicht so an wie „vor Corona“, ohne das Umarmen, die so selbstverständliche Nähe.

Das Leben wirkt verkrampft, gezwungen, irgendwie ermüdend. Lust auf was auch immer haben, spontan sein, das geht nicht mit Corona im Kopf. Nicht einmal beim Fernsehen ist Abschalten möglich, das Virus verfolgt uns durch fast jede Sendung. Spätestens beim Bericht über die Existenznöte von Cafébetreibern oder das Leiden und gar Sterben von Covid-19-Opfern vergeht mir der letzte Rest an Feierlaune.

Und ein schlechtes Gewissen stellt sich ein: Warum ich, den das Virus bislang nicht infiziert und nicht um die Existenz gebracht hat, mich überhaupt beklage.

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Als Wissenschaftsjournalist kenne ich die Gründe, warum wir uns jetzt seit Monaten vernünftig verhalten müssen. Ich weiß um die Schutzwirkung der Maske für andere und für mich, kenne den Sinn des Abstandhaltens und der Zugluft gegen virushaltige Aerosole und warum Massenevents derzeit nicht möglich sind. Aber wer will immer vernünftig sein?

Nach der Pandemie 1918 folgten die „Goldenen Zwanziger“

Gerade jüngere Leute möchten Zeit mit ihren Freunden verbringen. Zum Jungsein – auch zum sich Jungfühlen älterer Semester – gehört das Spiel mit dem Risiko: mal ein bisschen zu viel trinken, mal ein bisschen zu lange feiern, mal ein bisschen was Verbotenes tun.

Verständlich auch, dass Großeltern nicht ungefragt geschützt werden wollen, sich verlassen oder „weggesperrt“ fühlen, wenn die Enkel nicht oder kaum kommen. Und natürlich ist da der Impuls, die 76-jährige Mutter in den Arm zu nehmen und zu trösten, Abstandsregeln über den Haufen zu werfen, sich einzureden, dass schon nichts passieren werde. Doch das wäre fatal.

Was also tun mit dem stärker werdenden Impuls, die Regeln abzuschütteln? Die Antwort ist: Sich freuen auf das, was kommt, wenn wir diese Durststrecke überstanden haben.

Was kommen kann, zeigt der Blick in die Historie von Pandemien. Auf die Influenza-Epidemie 1918, die mit schätzungsweise 50 bis 100 Millionen mehr Todesopfer forderte als beide Weltkriege zusammen, folgten die „Goldenen Zwanziger“.

Wir entscheiden jetzt, ob wir selbst dabei sein werden

Nach zwei Jahren, in denen die Seuche wütete und wie heute die Menschen zu Schul- und Firmenschließungen, Abstandhalten und Maskentragen zwang, brach sich die aufgestaute Lebenslust Bahn. Nach dem langen Atemanhalten ging ein kollektives Aufatmen um die Welt.

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Die Überlebenden von Krieg und Pandemie wollten Spaß. Die Unterhaltungsbranche lebte auf. Allein in Berlin konnte man in 900 Clubs, dreimal so vielen wie heute, den Angstschweiß mit Charleston und Foxtrott aus dem Körper tanzen. Die Kinosäle wuchsen, die Cabarets zogen Scharen an. Die Klamotten wurden freizügiger. Auf Pflichterfüllung folgte Sorglosigkeit, der Drang nach Nähe wurde ausgelebt. Die Geburtenrate explodierte weltweit.

Nirgendwo sonst dürfte auch das in der Coronakrise aufgestaute Spaßbedürfnis größer sein als in Berlin. Nirgendwo dürfte ihr Ende exzessiver gefeiert werden. Auf unterschiedlichste, kreativste, Berliner Art und Weise. Das wird toll!

Aber klar ist: Wir entscheiden jetzt, indem wir den Impuls, heute schon Spaß haben zu wollen, noch unterdrücken, wer die große Party mit uns feiern wird. Und ob wir selbst dabei sein werden.

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