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Wulff-Rede: Sag niemals Vielfalt

Die Schrecksekunde dauerte etwa 48 Stunden, dann ging das Gewitter los. Der Bundespräsident hatte es gewagt, den Islam einen Teil Deutschlands zu nennen. Ausgerechnet in der Rede zum Tag der deutschen Einheit.

Man reibt sich die Augen: Mehr als 450 Jahre nach dem Augsburger Religionsfrieden werden hierzulande wieder – zum Glück verbale – Glaubenskriege ausgetragen darum, welcher Religion das Land gehört. Und ebenso erstaunlich: Kein säkularer Konservativer steht auf und verlangt, die Kirche doch bitte schön im Dorf zu lassen, wo sie hingehört.

Wo längst entschiedene Schlachten neu geschlagen werden, darf man Stellvertreterkriege vermuten. Wofür die Chiffre Islam im Wörterbuch von Wulffs Kritikern steht, wird klarer, wenn man den umkämpften Satz der Rede im Zusammenhang liest. Unmittelbar davor nämlich sagte der Bundespräsident: „Zuallererst brauchen wir eine klare Haltung: Ein Verständnis von Deutschland, das Zugehörigkeit nicht auf einen Pass, eine Familiengeschichte oder einen Glauben verengt.“ Eigentlich eine Selbstverständlichkeit. Vor 20 Jahren hätten sie wohl auch Wulffs Kritiker akzeptiert. Masseneinwanderung hatte zwar längst stattgefunden, die meisten hatten aber weder ein Bewusstsein von der tatsächlichen Buntheit Deutschlands, noch gab es darüber eine große Debatte. Dann schlug vor zehn Jahren das rot-grüne Staatsangehörigkeitsrecht eine erste Bresche in alte Gewissheiten, indem es die Staatsbürgerschaft nicht mehr selbstverständlich und ausschließlich an deutsche Vorfahren knüpfte. Fünf Jahre später begannen die Statistiker, auf Deutschlands Vielfalt zu schauen, die mit und die ohne Pass, und entdeckten: Etwa ein Fünftel der Menschen, die hier leben, hat nichtdeutsche Wurzeln. Und in jenen 20 Jahren Einheit, die Wulffs Rede feierte, haben wir lernen müssen, dass auch ethnische Zugehörigkeit Wessis und Ossis nicht davor schützt, einander fremd zu sein. Die neue Unübersichtlichkeit verunsichert uns schon lange. Nun hat der Bundespräsident uns auch noch aufgefordert, sie freudig zu begrüßen, weil sie Deutschland voranbringe – das war wohl zu viel des Guten und wurde ihm mit einem Proteststurm vergolten. Der sich allerdings nicht an jenem Satz Wulffs entzündete, sondern an dem zum Islam. Wolfgang Schäuble, Christdemokrat wie Wulff, hat vor vier Jahren die Deutsche Islamkonferenz mit exakt denselben Worten eröffnet. Damals schrie keiner auf. Inzwischen hat sich die Debatte radikalisiert. Der Islam ist antidemokratisch, grundgesetzwidrig, von gestern – wer das behauptet, unterliegt inzwischen keiner Beweispflicht mehr.

Auch ein anderer Punkt in Wulffs Rede blieb erstaunlich unausgeleuchtet: Wulff sprach von einer „Parallelwelt“ der Elite, von „Entscheidungsträgern“, die sich von der Gesellschaft abwendeten. Parallelwelt? Ist die nicht in Neukölln? Die Kommunikationswissenschaft spricht da von Markierung: Das Etikett lenkt und verengt den Blick auf eine Eigenschaft des Beobachteten. Hamburgs Elbvororten und Potsdams Villenviertel klebt kein Etikett „Vorsicht, Parallelgesellschaft!“ an. Vielleicht sollte der Bundespräsident einfach öfter darüber reden.

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