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Christian Wulff maß sich mit Joachim Gauck.

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Wulff und Gauck: Wettstreit der Worte

Zum 20. Jahrestag der Deutschen Einheit sprachen an zwei Orten zwei Männer, die sich einst ums Präsidentenamt stritten: Wulff und Gauck. Sie wählten dafür dasselbe Thema

Von Antje Sirleschtov

Walther von der Vogelweide hätte seine Freude an diesem Fest gehabt. Zwar ist nicht viel Konkretes über den Dichter aus dem 13. Jahrhundert überliefert. Dass der Mann mit den bunten Leibchen allerdings ein Freund des öffentlichen Sänger-Wettstreits war, das gilt als sicher. Und Wettstreit, den hat es an diesem Wochenende zur Genüge gegeben. 20 Jahre Wiedervereinigung: Am Samstag in Berlin, am Sonntag in Bremen, dann wieder in Berlin. Und vor allem: ein erlesenes Duell der Gedanken, ganz oben im Staat, wo man die Großmeister des Wortes wähnt.

Es ist Sonntagmittag, kurz vor eins, und Christian Wulff lächelt. Es ist nur ein sehr kleines, ein kaum wahrnehmbares Lächeln. 20 Minuten am 20. Jahrestag der Wiedervereinigung in der Bremen Arena. Wulff hat den wohl bekanntesten Satz des vereinten Deutschlands – „Wir sind das Volk“ – in den Mittelpunkt seiner Rede, seiner ersten programmatischen, seiner ersten großen, gestellt. Er hat ihn zu seinem Satz gemacht, zum Sinnbild für Mut und vor allem für Hoffnung. Wir haben die Wiedervereinigung zweier 40 Jahre getrennter Teile des Landes geschafft, hat Wulff gesagt. Und daraus für die Zukunft geschlossen: Den Rest, den schaffen wir auch noch.

Geschafft. Jetzt streben auch Angela Merkels Mundwinkel kurz gen Himmel. Die Kanzlerin hatte Wulff vor gut drei Monaten zu ihrem Kandidaten für das höchste deutsche Staatsamt gemacht. Es war ein holpriger Start des neuen, als blass geltenden Präsidenten in seinem Amt.

Erst wurde er unter Druck gesetzt und getrieben von einer hitzig und polarisierend geführten Debatte um Deutsche und Muslime, um Integration und Fremdheit, und dann hatte zu allem Übel vor dem Tag der Einheit auch noch Joachim Gauck, der Präsidentschaftskandidat, der zwar nicht von der Bundesversammlung gewählt wurde, den viele jedoch bis heute für den besseren Herrn im Schloss Bellevue halten, eine viel beachtete Rede zu eben diesem Thema gehalten.

Drohte also am Jubiläumstag ein Showdown zwischen Wulff und Gauck? Würde der Bundespräsident seiner Rolle als erster Mann des Staates gerecht werden?

Bereits am Freitag hatte Wulff die Öffentlichkeit wissen lassen, wie sehr er sich freue, am Feiertag der Nation bei den zentralen Feierlichkeiten am Sonntag sprechen zu dürfen. Nicht jeder hat ihm das abgenommen. „Hose voll“, hat so etwas mal in menschlichem Verständnis ein Fahrensmann der Politik genannt.

Christian Wulff jedenfalls wollte sich sein Einheitsfest von all dem Wettstreit nicht madig machen lassen. Vom „Deutschland – einig Vaterland“ hat er den Bogen weit bis in die gesellschaftliche Realität hinein gespannt. Und jedem, der hier lebt, die Hand gereicht. Ob Christ, Jude oder Muslim – „Ja, natürlich“, sagt Wulff, „ich bin der Präsident aller Menschen, die hier in Deutschland leben“. Brückenbauer will er sein, das hat Wulff bereits angekündigt, als er den Eid auf die Verfassung leistete. Präsident für alle. Das hat er in Bremen betont.

Und selbst die Opposition konnte in diesem Moment mal Opposition Opposition sein lassen. Jürgen Trittin jedenfalls, der Grünen-Fraktionschef, hob spontan die Hände zum Applaus. Eine Rede zur Deutschen Einheit hatte man von Wulff erwartet, einen Standpunkt zur Integrationsdiskussion und einen ersten Hinweis darauf, was dieser Bundespräsident mit seinem Amt anfangen will.

Joachim Gauck zu unterstellen, er habe es bewusst auf den Wettbewerb mit Wulff ankommen lassen, er habe gar an diesem Wochenende noch einmal eindrücklich unter Beweis stellen wollen, dass er der bessere Präsident hätte werden können, wäre sicher unredlich. Schon eher kann man sich das verschmitzte Lächeln des Regierenden Bürgermeisters von Berlin vorstellen, als er Anfang Juli und damit unmittelbar nach der Präsidentenwahl seinen Namen unter ein Einladungsschreiben setzte. Gauck, der SPD-Kandidat, der Bürgerkandidat der Herzen: Mit Nachdruck hatte ihn Klaus Wowereit ersucht, die Festrede zum Gedenktag an das Ende der Teilung der Hauptstadt Anfang Oktober zu halten. War das der geschickte Versuch eines Politikers, den Wettstreit zu inszenieren? Sozusagen als Fortsetzung eines politischen Wahlkampfes, der doch eigentlich schon entschieden war?

Gauck jedenfalls hat die Sache erst spät durchschaut. Geehrt von der breiten Zustimmung der Bevölkerung in seinem präsidialen Sommer-Wahlkampf, hatte er der Einladung für den Herbst rasch und gern zugestimmt. Und was sollte auch dagegensprechen?

Gauck war Bürgerrechtler in der zusammenstürzenden DDR gewesen. Gauck hat sich als Chef der Stasi-Unterlagenbehörde große Verdienste um die Aufarbeitung der zweiten deutschen Diktatur erworben. Und als kluger und wortgewaltiger Festredner taugt der ehemalige Pfarrer allemal. Er weiß das. Warum also sollte er nicht das Wort ergreifen, wenn am 2. Oktober im Berliner Abgeordnetenhaus die Honoratioren der wiedervereinigten Hauptstadt des Endes der Teilung gedenken? Ost, West, Freiheit, Bürgersinn: alles seine Themen. Und dann auch noch diese Integrationsdebatte. Es drängt den Denker seit Wochen zu einem Wort.

Gauck entwarf eine flammende Rede. Ein Plädoyer für den mündigen Bürger, der sein Schicksal erkennt, die „Verantwortung der Freiheit“ annimmt und der „selbst gewählten Ohnmacht“ entflieht. Nichts wollte der Beinahe-Präsident der Deutschen seinen Zuhörern ersparen. Nicht die Schelte für die Politik, die ihre Entscheidungen „aus Angst vor den Wählern aufhübscht und verschleiert“. Nicht das Unverständnis für die Bürger, die „nicht bereit sind, sich zu informieren“, dafür aber gern die Politik beschimpfen. Und auch nicht die Aufforderung an die Eingewanderten, sich an Recht und Gesetz zu halten und die deutsche Sprache zu lernen.

Dass der Text weniger zur Festrede am letzten Tag des geteilten Berlin taugen würde, dafür aber von jedermann als Position eines Staatsmannes zur Lage der Gesellschaft verstanden werden kann, ist Gauck erst kurz zuvor aufgefallen. „Gauck fordert den Präsidenten heraus!“ – Vor dieser Schlagzeile schreckte der Ex-Kandidat dann doch zurück. Und erzählte am Samstagmittag den verdutzten Präsidenten, Stadtältesten, Bürgermeistern und Abgeordneten im Preußischen Landtag zunächst einmal die Geschichte von Walther von der Vogelweide. Der nämlich war ein eifriger Besucher der thüringischen Wartburg, wo er sich allzu gern mit anderen Dichtern in der gemeinsamen Kunst maß und das zuweilen derart heftig, dass die Wortspiele ins Geschichtsbuch als „Wartburgkriege“ eingegangen sind. Dies hier allerdings sei keinesfalls ein „Sängerwettstreit auf der Wartburg“, sagte Gauck, und schon gar kein Kräftemessen von zwei Männern, die der Welt beweisen wollen, wer der stärkere ist. Sprach’s mit ernster Miene – und hielt seine „Berliner Rede“.

Als Christian Wulff am Tag darauf nach Gottesdienst und Fahrt zum Festakt seinen Platz in Reihe eins der Arena von Bremen gefunden hatte, war allerdings längst klar, dass nicht nur Gauck und er an diesem nationalen Feiertag in einen Wettstreit der Worte und Gedanken geraten waren. Auch ein dritter Präsident wollte anlässlich der hohen Feierlichkeiten zeigen, was in ihm und seinem Amt steckt: Bundestagspräsident Norbert Lammert. Statt, wie es seit 20 Jahren guter Brauch im föderalen Deutschland ist, die zentralen Feierlichkeiten zur Wiedervereinigung an jedem 3. Oktober jeweils in der Hauptstadt des Bundeslandes auszurichten, das gerade den Vorsitz im Bundesrat inne hat, plante Lammert seit Monaten eifrig ein eigenes Event. Vor den Stufen des Reichstags ein schillerndes Fest zur Einheit mit Musik, Videoinstallationen, Feuerwerk und selbstverständlich einer Rede von ihm.

Ein Akt der Selbstdarstellung? Einer, der 1400 Staatsgäste am Nachmittag zwingt, dem Volksfest der Wiedervereinigung in Bremen beinahe ganz fern zu bleiben, weil man ja eilig in Sonderfliegern bis zum Abend in Berlin angelangt sein muss? Ein Schelm, wer so was denkt. Lammert, der auch im Sommer kurz als Kandidat für das Amt des Bundespräsidenten im Spiel war, begründet die Zeremonie zu später sonntäglicher Stunde mit einer feierlichen Erinnerung an die berühmte Nacht vor 20 Jahren, als mit Schampus und Lichterglanz auf die Einheit angestoßen wurde. Doch fand jenes historische Spektakel nicht in der vom 2. zum 3. Oktober statt? Egal. Norbert Lammert wollte von einem Wettstreit der Titanen nichts wissen, sondern nur ein paar „einordnende“ Sätze sagen. Und die kundeten dann von „stillem Stolz und lauter Dankbarkeit“, die zu fühlen richtig sei in Deutschland, und von der Leistung Helmut Kohls, der auch am Reichstag war.

Hat nun am Ende dieses langen redenreichen Einheitswochenendes Wulff den Sänger-Wettstreit gewonnen oder klebt es weiter an ihm, das Pech der ersten 100 Tage?

Renate Künast war es, die Wulff vor wenigen Tagen lautstark dazu aufgefordert hatte, sich „endlich“ in der Integrationsfrage zu Wort zu melden. Nach Wulffs Rede sagte sie, es seien „Ecken und Kanten“ zwar nicht erkennbar gewesen. Doch habe sie einen Präsidenten erlebt, „der ruhige, klare Worte spricht“. Na, und das sei auch irgendwie „okay“.

Ob Walther von der Vogelweide ein sehr früher Anhänger des demokratischen Wettstreits der Argumente war, darüber gibt es keine Aufzeichnungen mehr. Und man darf das wohl auch eher bezweifeln. Eines allerdings ist überliefert: Der Sänger-Wettstreit auf der Wartburg hat eine ganze Reihe von Werken der frühen Dichtkunst hervorgebracht. Von einer Siegerehrung war jedoch nie die Rede.

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