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Die ewige Kanzlerin: Angela Merkel bestreitet ihre dritte Amtszeit. Wird es eine vierte geben?

© dpa

Zehn Jahre Bundeskanzlerin: Wer ist Angela Merkel?

Heute vor zehn Jahren, am 22. November 2005, wurde Angela Merkel zur Bundeskanzlerin gewählt. Eine Bilanz.

Von Antje Sirleschtov

Es gab Zeiten, da hat die CDU ihre Kanzlerjubiläen mit großen Festen und sogar mit Gedenkschriften begangen. „10 Jahre Verantwortung für Deutschland“ stand im Herbst 1992 über der Broschüre zu Ehren von Helmut Kohl, der auch im Bonner Hotel Maritim mit Festreden und Champagner geehrt wurde.

Auf den Tag genau ist nun Angela Merkel zehn Jahre im höchsten Regierungsamt. Aber gefeiert wird nicht. Obwohl es, trotz Terrorangst und Flüchtlingschaos, durchaus einiges gäbe, worauf die Partei und Merkel selbst stolz sein könnten. Das Land und seine Bürger sind gut durch die Finanzkrise gekommen, auch die Euro-Krise konnte der Konjunktur und damit dem Wohlstand der Menschen im Allgemeinen kaum etwas anhaben.

Deutschland wird nicht nur auf dem europäischen Kontinent als geachtete Führungsmacht anerkannt, auch weltweit genießt das Land einen hervorragenden Ruf. Und das ist ein Verdienst auch dieser Kanzlerin. Sie gehört zu den Staatenlenkern, an denen niemand vorbei kann, nicht die Europäer, nicht die Russen und auch nicht die Amerikaner. Auf den Titel der mächtigsten Frau der Welt hat Angela Merkel mittlerweile ein Abonnement, scheint es.

Und auch zu Hause, das belegen die Umfragen, genießt Merkel höchsten Respekt – selbst nach den ersten Monaten der Flüchtlingskrise. Die Kanzlerin gilt als sachkundig und durchsetzungsstark. Keinem anderen Politiker, das hat gerade erst das Institut Allensbach herausgefunden, trauen die Deutschen zu, dass er die Interessen des Landes besser vertreten könnte als sie. Und ja, auch wenn es in Merkels eigener Partei seit Wochen gehörig rumpelt und sich die Chefin in einem Maß kritisieren lassen muss, wie man das lange nicht kannte: Wenn man die Frage nach Alternativen stellt, kurzfristig oder mit Blick auf die nächste Bundestagswahl, dann wird es ganz schnell still. Zehn Jahre, nachdem die erste Ostdeutsche und die erste Frau die Hand zum Kanzlereid gehoben hat, ist offenbar niemand zu sehen, der ihr das Amt ernsthaft streitig machen könnte.

Menschen mitreißen? Ist nicht Merkels Art

Wie aber hat sie das hinbekommen über all die Jahre? Schließlich eilt der Politik dieser Frau alles andere als der Ruf voraus, brillant zu sein. Weder verfolgt sie eine erkennbare politische Agenda, sie ist nicht Wirtschaftsliberale und auch nicht Sozialkonservative, noch vermag sie die Öffentlichkeit mit überzeugenden Argumenten mitzureißen. Ganz das Gegenteil. Merkel wirkt in Konfliktsituationen oft unentschieden, sie positioniert sich spät und treibt damit nicht selten politische Freunde und Gegner gleichermaßen zur Weißglut. Und dann erst ihre Auftritte: Voller verquerer Sätze und verdruckster Wortschöpfungen sehnt man sich beim Zuhören vergeblich nach klaren Botschaften.

Dennoch, und vielleicht sogar gerade deshalb, trauen ihr die Menschen. Womöglich vermuten sie hinter Merkels Vorsicht Bodenständigkeit, die sie zuverlässig schützt vor allzu ambitionierten Experimenten. Die Leute wollen in erster Linie vernünftig regiert und ansonsten in Ruhe gelassen werden. Und so haben sie diese Kanzlerin ja auch kennengelernt: Unideologisch, bis hin zur parteipolitischen Unkenntlichkeit. Aber gleichzeitig verlässlich, wenn es darum geht, den Tanker Deutschland durch die Wirren von Globalisierung und nationalstaatlicher Auflösung zu steuern.

Welchen Dienst die Vorsitzende der CDU ihrer Partei mit dieser präsidialen Amtsführung erwiesen hat, das ist noch nicht auszumachen. Mit der Mehrheit der Deutschen ist Angela Merkel jedenfalls durch einen ungeschriebenen Pakt verbunden. Zum gegenseitigen Nutzen: Sie garantiert Beständigkeit und bekommt dafür Vertrauen.

Zehn Jahre Kanzlerin Angela Merkel, zehn Neujahrsansprachen.
Zehn Jahre Kanzlerin Angela Merkel, zehn Neujahrsansprachen.

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Jetzt, nach zehn Jahren Kanzlerschaft, wird sich erweisen, wie tragfähig dieser Vertrag der Deutschen mit Merkel ist. Denn der Satz „Wir schaffen das“ bedeutet im Kern nichts anderes als: Vertraut mir! Merkel ist mit ihrem Kurs der Öffnung des Landes für Flüchtlinge zum ersten Mal in den zehn Jahren ihrer Kanzlerschaft ein großes Risiko eingegangen, ist aus der Deckung herausgetreten, mutet den Menschen wirklich etwas zu. Nun muss sie beweisen, dass sie in der Lage ist, ihr Versprechen auch einzulösen; „Wir schaffen das“.

Die Bedingungen sind für Merkel denkbar schlecht. Weil auf der einen Seite täglich tausende Flüchtlinge in Richtung Europa und nach Deutschland strömen und in der gleichen Geschwindigkeit die Probleme der Aufrechterhaltung der staatlichen Ordnung, der Integrationsfähigkeit und der Abwehr von Terror wachsen. Und es Merkel auf der anderen Seite mit unsicheren und zunehmend unwilligen Partnern in der EU zu tun hat, die sie dringend braucht, um den Zustrom der Menschen zu kanalisieren und damit zu begrenzen. Merkels größte Stärke in Konflikten, das Zerteilen einer schwierigen Aufgabe in viele kleine Aufgaben, die man dann Stück für Stück lösen kann, gerät an ihre Grenzen. Sie muss nun alle Bälle gleichzeitig jonglieren: Die Europäer auf Solidaritätskurs bringen, ein Bündnis mit den Türken schmieden und im Inland die Ängste vor Überforderung, Überfremdung und nicht zuletzt Terror besänftigen. Eine gewaltige Herausforderung.

Sie galt mal als Übergangskanzlerin. Das ist lange her

Nein, leicht war es nie in diesen zurückliegenden zehn Jahren. Als Merkel 2005 mit dem „Professor aus Heidelberg“ in den Wahlkampf zog, der mal eben das deutsche Steuer- und Sozialsystem aus den Angeln heben wollte und beinahe die Wahl verlor, galt sie den meisten als Übergangskanzlerin. Ohne Machtfundament in der Partei, politisch ein unbeschriebenes Blatt. Allenfalls durfte man die Fortsetzung der Reformpolitik ihres Vorgängers erwarten. Lediglich die Schwäche der anderen machte sie zur Regierungschefin. Dann Bilder von Merkel mit roter Windjacke im Eismeer, Versuch einer Imagekampagne: „Klimakanzlerin“. Längst vergessen.

Zur ersten Bewährungsprobe kam Merkel 2008. In Amerika platzte die Banken-Bombe, die Lehman-Pleite riss das Welt-Finanzsystem beinahe in einen Abgrund. Rentner in Deutschland an den Bankautomaten: Merkel musste das deutsche Banksystem retten. Milliardenhilfen des Staates für Spekulanten, Staatsgarantie für die Spargroschen der kleinen Leute, Konjunkturpaket.

Hat es je einen roten Faden in Merkels Politik gegeben, so etwas wie eine Vision, die sie antreibt: Jetzt war es damit vorbei. Pragmatismus wurde zum Regierungsprinzip. Krisen fordern Problemlöser. Merkel schmiedete ein Bündnis mit Arbeitgebern und Gewerkschaften, setzte Rettungspakete ins Werk und begründete schließlich mit der Lehre von der „schwäbischen Hausfrau“ ihre Sparpolitik. Ihre Partei, eben noch auf Steuersenkungskurs, war geschockt. Die Deutschen allerdings waren aus der Finanzkrise noch einmal mit einem blauen Auge davongekommen und fassten Zutrauen zu der Frau aus dem Osten.

Die SPD hatte dem nichts entgegenzusetzen. Deren erneute Schwäche und Merkels Instinkt bescherten ihr 2009 die Wiederwahl und eine zweite, europa- und innenpolitisch turbulente Amtszeit. Sie verlor beide Bundespräsidenten, die sie ins Amt gebrachte hatte, entschloss sich zum Ausstieg aus der Wehrpflicht und nach der Katastrophe von Fukushima zum Ausstieg aus der Atomkraft, obwohl sie kurz vorher die Laufzeit der Reaktoren noch verlängert hatte. Eine Politik voller Brüche und Widersprüche. Was eben noch aus der Not geboren war, machte Merkel nun zu ihrem Machtprinzip: Abwarten und tun, was nützen kann. Das Ende aller Prinzipien.

Auch beim Thema Europa gilt: die Kanzlerin bleibt pragmatisch

Mit ihrem Rettungskurs in der Euro-Krise hat Merkel zwar dafür gesorgt, dass den Deutschen die Währung nicht verloren ging. Ihr Beharren auf zum Teil härtesten Reformen in anderen EU-Ländern trug ihr allerdings den Ruf ein, Europa lediglich aus der ökonomischen Perspektive zu sehen. Und das ist wahrscheinlich sogar richtig. Wie vieles andere ist auch Merkels Europabild vor allem pragmatisch; es muss funktionieren. Während es den Politikergenerationen vor ihr um das Friedenswerk Europa ging, sieht Merkel ihre Aufgabe gänzlich emotionslos in der Integration, die im Zweifel auch schmerzhafte Einschnitte in die nationalen Eigenheiten bedeutet.

Im Ergebnis des unnachgiebigen Sparkurses, den sie Europa aufgedrückt hat, kann sich die deutsche Kanzlerin zwar des Respekts der Nachbarländer gewiss sein. Aber es ist nur ein Respekt der Schwächeren dem Starken gegenüber. Was Merkel jetzt erfahren muss, wo sie in der Flüchtlingskrise Partner und Solidarität bräuchte und stattdessen auf Zurückhaltung und zum Teil auch Ablehnung der europäischen Länder trifft.

Zehn Jahre Kanzlerschaft haben ihre Spuren hinterlassen, man sieht Angela Merkel die unzähligen Nächte und Wochenenden auf den Schauplätzen der Welt- und Innenpolitik an. Gipfeltreffen in Brüssel, Verhandlungen, Reisen. Und immer wieder wachsam sein, wenn es um Stimmungen in der Partei, beim Koalitionspartner oder ganz allgemein in der Bevölkerung geht. Merkels Natur ist beinahe unverwüstlich, sagen die, die sie auf diesem Machtmarathon begleiten. Sie kann in kurzer Zeit große Mengen an Informationen aufnehmen und abstrahieren. Das hilft, den Alltag dieses Jobs an der Spitze einer Regierung durchzustehen.

Allüren, Skandälchen? Kennt man nicht von dieser Frau. Verheiratet mit einem Wissenschaftler, ein Wochenendhaus in der Uckermark und Urlaub in immer derselben Wanderkluft an immer den gleichen Plätzen. Eine Kanzlerin mit unzähligen Jacketts, aus denen sie ihr Handy zieht. Zehn Jahre haben Angela Merkel zu einem Teil des Landes gemacht. Man kennt sie, man erkennt sie. Allein an ihren Gesten. Die Fingerkuppen beider Hände aufeinander vor dem Bauch zusammengelegt – Merkelraute.

Die Tagesspiegel-Themenseite zu Angela Merkel finden Sie hier.

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