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Politik: Zehn Jahre Deutsche Einheit (8): Die Perle der Uckermark beginnt zu glänzen

Kurz hinter Angermünde bricht der Aufschwung Ost scheinbar urplötzlich ab. Nur eine schmale Straße führt in Richtung Oder.

Kurz hinter Angermünde bricht der Aufschwung Ost scheinbar urplötzlich ab. Nur eine schmale Straße führt in Richtung Oder. Das Bahnnetz verengt sich plötzlich auf nur ein einziges, mit Unkraut bewachsenes Gleis. Erst kurz vor Polen kommt wieder Leben auf. Schon von weitem erkennt man am Rauch vieler Industrieschornsteine die Stadt Schwedt. Eine bunte Menschenmenge im Einkaufszentrum, Bauarbeiter überall: Zehn Jahre nach der Wiedervereinigung geht es in Schwedt an der Oder offenbar richtig voran.

Anfang der 90er Jahre wurde die sozialistische Vorzeigestadt Schwedt hart getroffen. Dem Abbau von Arbeitsplätzen folgten Orientierungs- und Hoffnungslosigkeit. Nicht, dass seit dem gar nichts passiert wäre. Aber im Gegensatz zu Jena oder Dresden platzt in der "Perle der Uckermark" erst jetzt der Knoten, werden Veränderungen sichtbar.

Stadt und Ämter sind dabei nicht untätig gewesen. Fast alle der 205 Beschäftigten des neuen Telegate Call Centers wurden vom Arbeitsamt vermittelt. Dessen Flexibilität lobt Telegate-Chef Dirk Kaiser in den höchsten Tönen: "Die Zusammenarbeit läuft hier so gut wie nirgendwo sonst. Das Arbeitsamt ist sehr unternehmerfreundlich - die tun alles, was gesetzlich nur möglich ist." Auch mit der Stadverwaltung ist Kaiser sehr zufrieden. In Schwedt habe man sehr schnell ein passendes Gebäude gefunden. "Die Baugenehmigung wurde sehr schnell erteilt", fügt der Telegate-Chef als weiteres Plus hinzu. Bei der Eröffnung des Call Centers im April waren nur 270 Arbeitsplätze geplant, jetzt sollen es 360 werden. Bürgermeister Peter Schauer (SPD) bezeichnet Telegate als "riesigen Glückstreffer". Schließlich hat der Einzug der Münchner Firma auch das alte Centrum Kaufhaus gerettet. Auch im eigenen Hause hat Schauer viel getan: Allein zwischen 1994 und 1999 wurden 504 der ehemals 996 Stellen von Verwaltungsangestellten, Kindergärtnerinnen, Hausmeistern und Sportwarten gekürzt. "Die werden mich nicht mehr wählen", meint er, aber es war notwendig wegen der angespannten Haushaltslage. Andererseits ist der Bürgermeister stolz auf das, was er noch erhalten konnte: die Musikschule zum Beispiel, oder die Uckermärkischen Bühnen. Mehr als drei Millionen Mark schießt Schwedt jährlich zum Elf-Millionen-Etat der Bühne zu. Kaum eine andere Stadt in Brandenburg kann auf ein eigenes Theater schauen.

Auch in der Industrie, im Handel sowie im Tourismus gibt es Grund zum Optimismus. Strukturen haben sich verändert, Konflikte scheinen gelöst, zukunftsweisende Projekte stehen vor der Realisierung.

Seit Anfang der 60er Jahre lebte Schwedt von Chemie und Papier. Das Petrochemische Kombinat (PCK) mit mehr als 8000 Mitarbeitern wurde 1991 privatisiert und kommt jetzt mit 1400 Beschäftigten aus. Nach Investitionen von insgesamt 2,5 Milliarden Mark gehört die PCK Raffinerie GmbH heute zu den größten und effizientesten Anlagen Deutschlands. Auf dem Werksgelände arbeiten 80 weitere Firmen, die - teils ausgegründet und deshalb weiter Zulieferer der Raffinerie - nochmal etwa 2000 Menschen Arbeit geben. Natürlich kaum ein Vergleich zu 1989. Aber PCK-Geschäftsführer Hans-Otto Gerlach verweist auf die insgesamt 200 Millionen Mark, die das Unternehmen an die Entlassenen zahlte. "Von den jährlich 300 Millionen Mark, die wir für Löhne, Instandhaltung und Investitionen ausgeben, bleibt auch eine ganze Menge in Schwedt", erzählt Gerlach. Natürlich ist Bürgermeister Schauer heilfroh, dass es dem größten Arbeitgeber im Ort gut geht. Auch wenn er "keine einzige Mark Gewerbesteuer" bekommt, weil die Eigentümer anderswo sitzen. Neben den Papierwerken, die 1992 privatisiert wurden, hat sich zur selben Zeit der bayerische Haindl-Konzern neu angesiedelt, 700 Millionen Mark investiert und mehr als 300 Leute eingestellt. Schwedts industrieller Kern ist also gerettet.

Eine wichtige Weiche für die Zukunft könnte mit der Ansiedlung der italienischen Chemie-Gruppe Bonazzi gestellt werden. 900 Millionen Mark Investitionen und 800 Arbeitsplätze warten nur noch auf die Subventionszusage aus Brüssel. Insgeheim hat Bürgermeister Schauer schon ein paar Millionen Mark Gewerbesteuer zusätzlich fürs nächste Jahr mit eingeplant. Aber bevor es nicht losgeht, hält er sich öffentlich damit zurück. Nach Telegate wäre Bonazzi der zweite große Coup des Jahres. Eigentlich hoffen die Schwedter aber auf den Mittelstand, der noch immer fehlt. Mittelständler entwickeln sich dann am besten, wenn die Infrastruktur steht. Endlich gibt es auch dort Bewegung. Die Ortsumgehungsstraße B 2 und die Autobahnanbindung B 166 sollen bald fertig sein. "Dass die Vorbereitung dafür acht bis zehn Jahre dauern würde, hätte ich damals nie gedacht", beteuert Schauer, der die Projekte früh in Angriff nahm. Eine geplante Brücke nach Polen könnte den Handel dorthin schon vor der EU-Osterweiterung ankurbeln. Bald wird auch der neue Binnenhafen auf dem Boden des Nachbarortes Vierraden fertiggestellt. Dann geht es schneller nach Stettin und zur Ostsee. Immerhin ist Schwedt nach dem Bau des Oder-Centers 1994 im Handel schon jetzt "perfekt und führend in der Uckermark", wie Schauer stolz berichtet. Wirtschaftsförderer Jürgen Polzehl verweist darauf, dass ein Drittel aller Schwedter im Service-Bereich arbeiten, dagegen nur 24 Prozent in der Industrie.

Neben Industrie und Handel lebt auch der Tourismus langsam auf. Der Nationalpark "Unteres Odertal" war jahrelang Streitthema zwischen Industrie, Bauern und Naturschützern.Der Konflikt scheint beendet, die Touristen können kommen. Auch die PCK Raffinerie und der Abriss der Plattenbauten locken auswärtige Schaulustige an. Touristenführer Torsten Freyhof spricht von Schülern aus Berlin und Lehrern aus Westdeutschland, die die Kombination aus Natur und Industrie fasziniert.

Natürlich bleibt eine Menge zu tun. Viele junge Menschen verlassen noch immer die Stadt - weil sie keine Zukunft sehen. Früher lebten hier 55 000 Menschen, jetzt sind es 40 000. Der Bürgermeister will durch Abriss der leer stehenden Hochhäuser wenigstens die Wohnqualität der Zurückgebliebenen verbessern. PCK-Chef Gerlach betont, dass die Lebensqualität schnell verbessert werden muss, damit keine "Verarmung an Schaffenskraft und Ideen" eintritt. In Anspielung auf vergangene Jahrzehnte fügt Gerlach hinzu: "Trabi und Zwei-Zimmer-Wohnung sind heute keine Argumente mehr".

Christian Splett

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