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Abreißen fürs Vergessen? Stehen lassen zum Gedenken? Die Reste eines Warenhauses an der Küste von Galle.

© Christian Tramitz

Zehn Jahre nach dem Tsunami in Südostasien: Aus der Versenkung

Vor knapp zehn Jahren überfiel der Tsunami Südostasien. Auch Sri Lanka. In dem Inselstaat erholen sich die Menschen langsam. Viele leiden unter der Erinnerung, und viele leiden unter der Korruption. Und dann sind da noch die versickerten Spenden.

Das Haus der Toten steht im Paradies. Galbokka, ein kleines Dorf an der Südwestküste Sri Lankas, sattgrüne Palmenhaine, goldene Sandstrände, die menschenleer sind. Ruhig und tiefblau liegt das Meer, sanft schwappen Wellen mit weißen Schaumkronen aufs Ufer, hinter dem Strand spenden Avocado-, Bananen-, Mangobäume und Kokospalmen Früchte und Schatten. Das kleine Hotel, das es seit zwei Jahren in Galbokka gibt, ist gut gebucht, paradiesisch, sagen die überwiegend deutschen Gäste.

Das Haus der Toten steht leer. Das Dach ist zur Hälfte eingestürzt, die maroden Wände sind mit Stockflecken übersät, ausgespült ist das Gebäude. Es müsste von Grund auf renoviert werden. Oder abgerissen. Aber hier in Galbokka will es keiner mehr betreten. Weil das kleine Haus zum Haus der Toten wurde, damals, am 26. Dezember 2004, als der Tsunami den Tod auch nach Galbokka brachte. In diesem Haus waren viele Leichen geborgen worden, ertrunken, zerquetscht und erschlagen. Die Geister, sagt man im Dorf, die Geister leben noch hier.

Auch das Meer ist menschenleer. Kaum einer schwimmt in ihm. Manchmal planschen ein paar Jugendliche an einer seichten, von Felsen geschützten Stelle. Wenn die Hotelgäste ihre Badesachen packen, packt Sumidh den Rettungsring. Der 25-jährige Angestellte des Hotels ist Mann für alles und auch für die Sicherheit der Gäste verantwortlich. Das Meer ist gefährlich, sagt er, und heimtückisch, auch jetzt, wo es gelassen und unschuldig daliegt.

Vor fast zehn Jahren war es in Aufruhr, im Furor und mörderisch. Sumidh hatte sich, wie er erzählt, zusammen mit Hunderten von Dorfbewohnern nach der ersten Welle zu einem hochgelegenen Tempel geflüchtet. Von dort aus sahen sie, wie sich das Meer erst weit zurückzog. Dann überfiel es die Insel mit einer zweiten, über sieben Meter hohen Welle. Alles was ihr im Weg stand, riss sie mit: Menschen, Tiere, Häuser, Möbel, Boote. Es war ein Vollmondtag, ein Poya-Tag, den die Buddhisten als Feiertag begehen. Die Kinder waren nicht in der Schule, viele spielten am Strand. Die Fischer waren nicht auf dem Meer, ihre Boote lagen an Land. Und später zertrümmert irgendwo im Hinterland. Die Wellen waren ausgelöst worden von einem Seebeben mit einer Stärke von 9,3 auf der nach oben offenen Richterskala, das drittstärkste Beben der vergangenen 100 Jahre. Das Meer traf die Menschen unvorbereitet, Warnsysteme waren noch nicht entwickelt. In neun Ländern Südostasiens verloren mehr als 226 000 Menschen ihr Leben. Allein Sri Lanka hatte zwischen 32 000 und 39 000 Tote zu beklagen. Auf dem Inselstaat gab es über 4000 Vermisste und 23 000 Verletzte. Rund eine halbe Million Menschen wurden obdachlos.

Eine in der Menschheitsgeschichte einzigartige weltweite Hilfs- und Spendenaktion folgte der Katastrophe. Auch die Leser des Tagesspiegels beteiligten sich und spendeten 565000 Euro für die Hilfsaktion mit der Deutschen Hungerhilfe „Ein Dach über dem Kopf“, die zielgerichtet im Nordosten in den Regionen Mullaitivu und Triconmalle verwendet wurden. Von der Weltgemeinschaft flossen insgesamt 6,3 Milliarden Euro in die Hilfe für die Tsunamiopfer. Zweieinhalb Milliarden Dollar erhielt Sri Lanka für den Wiederaufbau der Küstenregionen. Aber nicht alles vom Geld der Welt kam auch bei denen an, die die Hilfe benötigten.

Spuren des Neubeginns wechseln mit Spuren des Endes

Abreißen fürs Vergessen? Stehen lassen zum Gedenken? Die Reste eines Warenhauses an der Küste von Galle.
Abreißen fürs Vergessen? Stehen lassen zum Gedenken? Die Reste eines Warenhauses an der Küste von Galle.

© Christian Tramitz

Entlang der Küstenstraße wechseln sich immer noch die Spuren des Endes und Neubeginns ab. Marode, vom Tsunami angegriffene Häuser verfallen, neben ihnen wird gebaut. Renovierte alte Häuser sind kaum zu sehen, wenn, dienen sie nicht mehr als Wohnhaus, sondern im Erdgeschoss allenfalls als Laden. An einem Strandstreifen in der Nähe von Hikkaduwa, wo das Wasser am heftigsten wütete, wagte keiner ein neues Leben mehr. Hier stehen nicht einmal Häusergerippe, zu sehen sind nur noch Reste von Steinfundamenten, über die allmählich Gras wächst. In der Nähe steht als Denkmal eine riesige Buddhastatue, genau an jener Stelle, an der eine große Hochzeitsgesellschaft einen besonderen Tag feiern wollte, aber auf tragische Weise ihren letzten erleben musste. Jährlich findet hier eine große Gedenkfeier statt. Ein paar Kilometer entfernt erinnert eine düstere Skulptur an das schwere Eisenbahnunglück von Peraliya. Auf einem Bronzerelief sind umhergewirbelte, umgestürzte Eisenbahnwaggons zu sehen, dazwischen Tote, erschlagene und ertrunkene Menschen. 1720 Reisende hatte die Welle in den Tod gerissen. Es ist fast schon eine bittere Ironie des Schicksals, dass die Lok des Zuges „Samudra Devi“ hieß, „Königin des Meeres“. Die Katastrophe, eine der schlimmsten der Menschheitsgeschichte, hatte alttestamentarische Ausmaße. Als habe Gott die Menschen mit der elften biblischen Plage bestraft.

Auch das Haus von Sumidh, dem Hotelangestellten in Galbokka, versank in den Fluten. „Alles war weg“, erzählt er, „alles. Von unserem Dorf stand so gut wie nichts mehr.“ Wenn die Menschen hier vom Tsunami sprechen, schwingt eine Mischung aus Respekt vor der Kraft und Unberechenbarkeit des Meeres und Dankbarkeit mit, nicht gestorben zu sein. Man hatte eine todbringende Welle erleben müssen, aber man hat sie überlebt. Und ist geblieben oder zurückgekehrt zum Ort der Verwüstung. Neuanfang, was blieb anderes?

So wie die beiden alten Frauen, die einst in Hikkaduwa ein florierendes Stoffgeschäft besessen hatten. „Ich habe alles verloren, was ich besaß“, erzählt die ehemalige Besitzerin. Eine private Spenderin schenkte ihr 1000 Euro, genug für den Kauf eines kleinen Holzverschlags und zweier Nähmaschinen. Inmitten alter, abgelegter Saristoffe nähen die Frauen Bettüberwürfe für die Touristen. Zwölf Euro das Stück. Die Stimmung ist ausgelassen. Das Leben geht weiter, auch wenn es sich verändert hat. Thematisiert wird der Tsunami allenfalls, wenn Touristen ihn zum Thema machen. „Das Ende ist mein Anfang“, heißt es im Buddhismus. Möglicherweise gehen die Menschen dieses Glaubens anders mit Katastrophen um als wir. Es hat zumindest den Anschein, als habe die Mehrzahl der Menschen das Schicksal gut verarbeitet. Oder nachhaltig verdrängt?

Und doch sind viele an der Katastrophe zerbrochen. Fischer, für die das Meer zum gefürchteten Feind geworden war, gaben ihr bisheriges Leben auf und zogen ins Landesinnere. Am stärksten traumatisiert, erzählen die Menschen, seien die Alten gewesen. Nachdem sie selbst überlebt hatten, hätten sie die Zerstörung und die Toten nicht verwunden. Viele seien an zerbrochenem Herzen gestorben. Den alten Menschen halfen auch nicht die weltweite Zuwendung und Hilfsmaßnahmen, die man in Sri Lanka „golden wave“ nennt, was wahrscheinlich nur für uns Europäer zynisch klingt.

Auch wenn fünf Jahre nach dem Desaster nahezu alle Häuser wiederaufgebaut werden konnten, hätte alles wesentlich schneller, effektiver, vor allem aber gerechter zugehen können, sagen viele der Betroffenen, unter ihnen auch Sadu Ahongalle Wimalathamma, der Mönch. Der Buddhist ist Schulleiter sowie Vereinsdirektor von „Future for Children“ und Klosterleiter. Von der Unesco wurde er für sein soziales Engagement besonders nach dem Tsunami ausgezeichnet. Die Gelder, sagt Sadu, seien seitens der Regierung nur zögerlich geflossen. Etliche der in den über 400 Hilfsorganisationen tätigen Menschen hätten sich hohe Gehälter ausgezahlt und sich schöne neue Häuser in teuren Gegenden gebaut. Und die im Norden des Landes ansässigen Tamilen klagten offen, bei der Verteilung erheblich benachteiligt worden zu sein. Vor diesem Hintergrund flammte vor neun Jahren der Bürgerkrieg im Land wieder auf.

Ein Teil der Spendengelder verschwand in dunklen Kanälen

Abreißen fürs Vergessen? Stehen lassen zum Gedenken? Die Reste eines Warenhauses an der Küste von Galle.
Abreißen fürs Vergessen? Stehen lassen zum Gedenken? Die Reste eines Warenhauses an der Küste von Galle.

© Christian Tramitz

Undurchsichtige Verteilung der Hilfsgelder und Vorteilsnahmen bestätigt auch Rukshana Nanayakkara von Transparency International, der weltweit agierenden Organisation zur Bekämpfung von Korruption. Unter seiner Leitung wurde 2009 ein Bericht publiziert, wonach 472 Millionen US-Dollar Spendengelder verschwunden seien. Nanayakkara sagt, es gebe Hinweise, dass die Regierung die Gelder anderweitig verwendet habe. Vermutet wird, dass davon unter anderem Prestigeobjekte umgesetzt wurden, etwa der zweite internationale Flughafen im Süden des Landes, Autobahnen und Regierungsgebäude. Und wenn der Sohn des Präsidenten Lust auf eine private Autorallye mit seinen Luxuskarosserien hat, werde für ihn auch mal die Autobahn gesperrt, erzählt der Fahrer des kleinen Hotels. Aber bis heute, so Nanayakkara, wisse man nicht konkret, wohin das Geld verschwunden sei.

Immerhin weiß man auf Sri Lanka selber, dass mit einem Teil der Spendengelder Schindluder getrieben wurde. 2005, ein dreiviertel Jahr nach der Katastrophe, gab der Rechnungshof von Sri Lanka bekannt, von den bis dahin eingegangen 1,16 Milliarden Dollar sei gerade mal ein Achtel ausgezahlt worden.

Benachteiligt waren, wie so oft, die ohnehin Schwächsten und Ärmsten: die kleinen Bauern, vor allem die nah am Meer lebenden Fischer. Denen ging es schon vor dem Tsunami nicht rosig, weil ihnen die Großkutter anderer Staaten die Nahrungsgrundlage weggefischt hatten. Dann zerschmetterte ihnen der Tsunami Häuser und Boote. Schließlich erhielten sie von der Regierung bei ihrem Wiederaufbau kaum Unterstützung. Es wird ihnen nur ein schwacher Trost sein, dass Staatspräsident Mahinda Rajapakse schon früh einräumte, „dass die Hilfe für die Bevölkerung nicht ausreichend gewesen ist.“ Was Elfriede Süß, Kinderbotschafterin der Unesco, und Gründerin des Kinderhilfsprojekts „Future for Children – Zukunft für Kinder e. V.“ auf Sri Lanka, das von der Unesco als weltweit bestes Vorzeigeprojekt ausgezeichnet wurde, noch heute empört: „Die neuen Häuser der ganz Armen wurden auf jeden Fall ausschließlich aus privaten Spenden und denen der Nicht-Regierungsorganisationen, den NGOs, finanziert.“

„Es haben bevorzugt die Menschen etwas bekommen, die auch vor dem Tsunami schon ganz gut dastanden“, sagt Mönch Sadu. Reiche aus Colombo beispielsweise, deren Ferienhäuser am Strand in schlechten Zustand geraten waren. So manch einer dieser Vermögenden stockte sein Haus mit Spendengeldern um eine weitere Etage auf. „Einige besaßen nach dem Tsunami mehr, als sie vorher hatten. Da bekamen plötzlich Leute ein Boot, die keine Fischer waren, und so manch eine Familie war nach dem Tsunami stolzer Besitzer nicht von einem, sondern gleich zwei Häusern.“ Und Janaka, der Manager des kleinen Hotels in Galbokka, setzt den Unglücksprofiteuren noch eines drauf: „Hier gibt es Dorfbewohner, die hätten nichts gegen einen weiteren Tsunami. Dann könnten sie wieder neue Häuser beziehen.“

Sumidh hatte Glück, er gehörte zu jenen, die bereits nach zwei Jahren ein schönes Heim nebst kompletter Neuausstattung, Möbel, Kleidung, Haushaltsgeräte hatten. Er und nicht nur er, alle, werden nicht müde, jenen zu danken, denen sie ihr jetziges Leben verdanken: den vielen privaten Initiativen und den NGOs.

Das Paradies wird zugebaut

Abreißen fürs Vergessen? Stehen lassen zum Gedenken? Die Reste eines Warenhauses an der Küste von Galle.
Abreißen fürs Vergessen? Stehen lassen zum Gedenken? Die Reste eines Warenhauses an der Küste von Galle.

© Christian Tramitz

Vieles Alltägliche auf Sri Lanka ist wieder ins Leben zurückgekehrt. Auch der Schlendrian in manchen Bereichen. So schert sich niemand mehr um die von der Regierung einst verordnete Pufferzone von zunächst 100 Metern, die zwischen Wasserlinie und Haus unbebaut einzuhalten war. Aus der wurden allmählich 50 Meter, später dann nur noch 30 Meter für die verbliebenen Fischer, die das Meer immer noch als Heimat haben. Vor allem aber für all die neu entstehenden Hotels, Bars und Restaurants. Je näher am Meer, desto besser, lautet die Devise. Bei etlichen Gebäuden platschen die Wellen direkt an die Hausmauern. Tsunami bedeutete nicht nur Tod, sondern auch Business. Überall an der Küste wird gebaut. Die Regierung setzt auf Tourismus. Die Grundstückspreise an den Küsten steigen, die Preise für Baumaterialien steigen, ebenso die Löhne der Handwerker.

Die Menschen wissen, dass ein weiterer Tsunami drohen kann. Aber fürchten sie ihn auch? Bebe die Erde wieder, so sagen sie, würden sie den Sicherheitsmaßnahmen vertrauen. Das Frühwarnsystem (GITEWS), das nach der Katastrophe unter der Leitung des deutschen Geoforschungszentrums GFZ aufgebaut wurde, steht auf jeden Fall. Trotzdem ertranken 2009 nach einem Tsunami im Südpazifik 200 Menschen. Als in der vergangenen Woche vor der chilenischen Küste die Erde erschütterte, warnte das System aber so rechtzeitig, dass sich 900 000 Bewohner auf 4329 Kilometern Küstenstreifen ins Hinterland retten konnten. Das Vertrauen in die Sicherheit ist auf Sri Lanka jedenfalls groß. Die Sirenen können im Fall einer Bedrohung die ganze Küstenregion beschallen. Per SMS blinken Warnungen auf. Die Menschen wissen, dass sie dann ins Hinterland oder auf Anhöhen fliehen müssen. Eigentlich hätten sie die Flucht auf vorgezeigten Wegen regelmäßig proben sollen. Eigentlich. Tatsächlich hält sich niemand an die vorgeschriebenen Übungen alle drei Monate.

Am goldenen Strand von Galbokka haben die Fischer die Netze eingeholt, Hotelgäste schlendern an ihnen vorbei. Es ist ruhig, das Meer. Kaum vorstellbar, wie es vor zehn Jahren getobt hatte. Und kaum jemand ahnt, dass sich eine neue Welle der Zerstörung anbahnt. Die der Natur und die der Strände. Hinter den Palmenhainen hört man das Hämmern und Bohren. Rohbauten von riesigen Hotels warten auf die Fertigstellung. Die Einsamkeit der Strände wird schwinden, das Paradies wird zugebaut. Ob dann noch Platz sein wird für die Ehrfurcht und Respekt vor den Geistern im Haus der Toten?

Christiane Tramitz

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